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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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den Geburtstagsclown. Es brach ihr noch immer das Herz.
    Und während sich die immer reiferen Interessen seiner Altersgenossen mit jedem neuen Lebensjahr in den Partythemen widerspiegelten – von Elmo über Bob den Baumeister und Spider-Man bis hin zu Star Wars –, hatte Anthony jedes Jahr einen Barney-Geburtstag, mit dem er rundum zufrieden war. Natürlich, sie hätte sich auch mit einer anderen Figur anfreunden können. Aber es gab keinen Grund, so zu tun, als würde er Superhelden oder Roboter oder Ninjas lieben. Er liebte Barney, und es würde keine anderen kleinen Jungen bei seinen Partys geben, die ihn wegen seiner Liebe zu einem lila Dinosaurier aufzogen.
    Und so zündeten Olivia und David jedes Jahr die Kerzen auf seinem Barney-Kuchen an und sangen »Happy Birthday«. Dann sagten sie: Komm schon, Anthony! Wünsch dir etwas und puste die Kerzen aus! Und dann tat er es nicht, daher pusteten sie sie für ihn aus. Sie wünschte sich immer etwas, jedes Jahr dasselbe.
    Bitte werde nicht älter. Du musst sprechen, bevor du älter wirst. Du musst »Mom« und »Dad« sagen und »ich bin sechs Jahre alt« und »ich will heute auf den Spielplatz gehen« und »ich liebe dich, Mom«, bevor wir noch einen verdammten Barney-Kuchen auf den Küchentisch stellen. Bitte hör auf, älter zu werden. Uns bleibt keine Zeit mehr .
    Sie hörte nie auf mit dem Wünschen.
    Sie taten jedes Jahr, als würden sie feiern, aber sein Geburtstag war kein Freudentag für sie oder David. Anstatt den Tag so zu begehen, wie sie es sich bei anderen Eltern vorstellte, die sie so glühend beneidete und manchmal hasste, anstatt über das vergangene Jahr zu staunen und darüber, wie sehr sich ihr Kind verändert hatte und gewachsen war, verspürten sie und David an Anthonys Geburtstag immer nur unausgesprochene Angst und Verzweiflung. Der siebzehnte März war jedes Jahr der eine Tag, an dem sie gezwungen waren, dem Ausmaß von Anthonys Autismus ins Auge zu sehen, klar zur Kenntnis zu nehmen, wie viel Fortschritt er nicht gemacht hatte. Wenn sie nach einem Geschenk für ihn suchte und sich bei den Spielsachen für die Altersgruppen ab fünf oder fünf und älter umsah, musste sie sich eingestehen, dass diese Spielsachen ihn nicht interessieren würden, dass er unmöglich mit irgendetwas davon spielen könnte. Da stand es, auf zu vielen Fisher-Price-Kartons gedruckt – Anthony war für sein Alter unglaublich weit zurück.
    Daher kaufte sie ihm ein pädagogisches Spielzeug, das Carlin, seine Therapeutin für angewandte Verhaltensanalyse, empfahl, oder ein neues Barney-Video, oder einmal wickelte sie eine Rolle Salz-und-Essig-Pringles für ihn ein. Pringles machten ihn immer glücklich. Aber das Geschenk, das er jedes Jahr am meisten liebte, war die Karte.
    Als er vier war, kaufte sie ihm die erste unzähliger Musik-Grußkarten, eine Hoops & Yoyo-Karte. Zuerst zeigte sie es ihm. Er sah zu, tat, als würde er nicht hinsehen. Sie klappte die Karte auf. Ein Lied ertönte, und die Figuren sangen. Sie klappte die Karte zu. Die Musik und der Gesang hörten auf.
    Bis heute erinnert sie sich an sein Gesicht, staunend und fröhlich, als er eine neue, unerwartete Faszination entdeckte, wie wenn er neue Lichtschalter fand. Er klappte die Karte auf. Musik. Er klappte sie zu. Keine Musik. Aufklappen. Musik. Zuklappen. Keine Musik. Diese Karten waren für Anthony der Himmel. Dasselbe Lied jedes Mal, wenn sie aufgeklappt wurde, dieselbe Musik; alles, was die Karte tat, war vorhersehbar und völlig unter seiner Kontrolle.
    Er verbrachte den Rest des Tages damit, zu lächeln und zu kreischen und mit den Händen zu fuchteln, während er die Karte immer wieder aufklappte, zuklappte, aufklappte, zuklappte, aufklappte, zuklappte. Das war alles, was er jedes Jahr wollte. Unbegrenzte Zeit allein mit seiner Karte. Und so war es das, was sie und David ihm schenkten.
    Sie fragt sich, wie es David geht, ob er schon wach ist, an das Datum denkt, an Anthony denkt. Sie hofft, dass er heute Trost findet. Dabei wird ihr schwer ums Herz, und sie wünscht, sie könnte dieser Trost für ihn sein. Aber das kann sie nicht. Sie hat keinen Trost in sich, und sie kann nichts anbieten, was sie selbst nicht hat. Er hat auch keinen. Sie wissen es beide.
    Olivia sitzt am Strand, wartet auf den Sonnenaufgang, lauscht auf eine Möwe, die über ihr kreischt. Es klingt wie Gelächter. Die Flut steigt. Mit jedem Wellenschlag sieht sie, wie ein bisschen mehr von dem Alles Gute zum Geburtstag, Anthony

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