Der Liebe eine Stimme geben
hinweggespült wird, bis es schließlich ganz vom Meer verschluckt wird. Weggewischt, als hätte es nie existiert. Wenn sie noch an Gott glauben würde, dann würde sie Ihn bitten, ihren in Sand geschriebenen Geburtstagsgruß ihrem Sohn im Himmel zu schicken. Aber sie bittet nicht darum. Es sind nur Worte, mit ihrem Finger in den Sand gekratzt, vom Ozean verschluckt.
Vor ihre Füße schreibt sie Ich liebe dich und wartet. Das Wasser kommt, stetig und verlässlich, schwappt und blubbert in jeden Buchstaben. Die Worte werden weggespült, erreichen niemanden.
Der Nebel beginnt sich zu lichten, und langsam bricht der Tag an. Vor ihr erstreckt sich der metallisch graue Ozean. Zu ihrer Linken erscheint der Leuchtturm. Die nächste Welle bricht, löst sich in sprudelndem Schaum auf und legt einen einzelnen weißen, runden Stein zu ihren Füßen ab. Ihr Herz stockt für einen Moment, dann schlägt es schneller. Sie kauert sich hin, hebt den schönen, glatten Stein auf und rollt ihn in ihrer Hand.
Anthony.
Ich vermisse dich, mein süßer Junge.
Die Sonne geht auf, schimmert rosig über dem Meer am Horizont, in der Farbe von Petunien, schön und voller Versprechungen.
FÜNF
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Beth und Petra sitzen in Jills Wohnzimmer und warten auf Courtney und Georgia. Es ist der Buchclub-Abend, aber Courtney unterrichtet donnerstags abends Yoga, und ihr Kurs endet erst um halb sieben, daher wissen sie, dass sie sich ein bisschen verspäten wird. Und Georgia kommt immer zu spät. Auch das weiß Jill, aber sie ärgert sich trotzdem darüber. Sie lässt die beiden im Wohnzimmer warten, bis alle gekommen sind, da sie will, dass die ganze Gruppe das Esszimmer zur selben Zeit sieht. Sie stellt sich einen großen Auftritt vor.
Beth wird allmählich auch nervös. Petra hat vor, sie heute Abend zu outen, und Beth ist immer weniger überzeugt von diesem Vorhaben, je öfter Jill aufseufzt. Es ist nicht so, dass sie nicht will, dass ihre Freundinnen erfahren, dass Jimmy eine Affäre hat und ausgezogen ist. Sie will nur nicht, dass es die ganze Insel erfährt. Und das werden sie – Len, die Schulleiterin; Patty, die Kassiererin im Stop & Shop; Lisa, Beths Friseurin; Jessicas Basketballtrainerin.
Aber Petra hat recht. Beth muss zu ihrer Wahrheit stehen, muss Kraft aus der kollektiven Liebe ihrer Freundinnen schöpfen, und noch etwas. Noch eine Plattheit aus dem Motivationsgespräch, das Petra heute mit ihr geführt hat, klang in dem Moment gut. Jetzt kann sich Beth nicht mehr erinnern, was es war. Petra liest viele inspirierende Bücher. Und sie liest Tarotkarten und geht einmal im Monat zu einem Schamanen statt zu einem normalen Therapeuten. Viele Leute auf der Insel finden, dass Petra ein bisschen durchgeknallt ist. Beth gibt ihnen zwar recht, dass Petra einen leichten Hang zum Exzentrischen haben kann, aber sie glaubt auch, dass Petra eine innere Weisheit besitzt, von der die meisten Leute nie etwas erfahren, eine spirituelle Mitte, die Beth bewundert, zu der sie sich hingezogen fühlt und die sie selbst, da ist sie sich sicher, nicht hat.
Und außerdem, von Aufrichtigkeit, Freundschaft und New-Age-Hokuspokus einmal abgesehen, grenzt es ohnehin an ein Wunder, dass Jimmys Affäre nicht schon längst öffentlich bekannt ist. Beth weiß es. Petra weiß es. Jimmy und Angela wissen, dass Beth es weiß, daher sind sie jetzt vermutlich weniger vorsichtig. Die Leute vom Restaurant müssen es wissen. Und die werden es früher oder später irgendjemandem erzählen, der es Jill oder Courtney oder Jessicas Basketballtrainerin erzählen wird.
Inzwischen wissen die Mädchen, dass er ausgezogen ist. Sophie war die Erste, der aufgefallen ist, dass Dad an keinem seiner gewohnten Plätze mehr zu finden war – dem Bett, der Couch, seinem Zigarrenstuhl. Wo ist Dad? erwies sich als schwierigere Frage als Was ist Sex? Oder Hast du je Pot geraucht? Beth tastete sich durch ihre Antwort, blieb bei ihrer Erklärung bewusst knapp und unbestimmt (und ganz ehrlich – sie weiß auch nicht genau, wo er ist), ein vergeblicher Versuch, die Mädchen davor zu schützen, die Art Vater zu haben, der ihre Mutter betrügen würde. Daher wissen sie, dass er nicht mehr zu Hause wohnt, aber sie wissen den hässlichen Grund nicht. Noch nicht. Bedauerlicherweise ist ihr Vater eben doch jemand, der ihre Mutter betrügt, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle, einschließlich seiner drei hübschen Töchter, es wissen werden.
Beth nimmt sich das Exemplar von Nantucket Life
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