Der Liebe eine Stimme geben
hätte ihr Angst gemacht. Eine Frau allein an einem abgelegenen Strand, meilenweit entfernt von jemandem, der sie hören könnte, wenn sie Hilfe bräuchte – wie die meisten Mädchen ist sie dazu erzogen worden, eine solche Situation zu meiden. Aber jetzt hat sie nicht nur keine Angst, sie ist sogar froh, hier zu sein. Sie befürchtet nicht eine Sekunde, allein hier draußen am Great Point vergewaltigt oder ermordet zu werden. Durch das behütete, vorstädtische Hingham zu gehen, umgeben von gewöhnlichen Leuten, die alltägliche Dinge taten – das war es, was sie fast umgebracht hatte.
Die Chips-und-Snacks-Abteilung im Supermarkt. Ein Little-League-Baseballspiel, das im Gange ist. Die St. Christopher’s Church. Aufzüge im Einkaufszentrum. Ihre alten Freundinnen, die mit ganz normalen Kindern gesegnet sind – eine, die unschuldig mit ihrer Tochter im Schultheaterstück prahlt, eine andere, die sich leise beklagt, dass der Mathematikunterricht in der dritten Klasse ihren Sohn nicht genug fordert. Sie meidet sie alle.
All diese Orte und Leute und Dinge sind aufgeladen, angefüllt mit Erinnerungen an Anthony oder den Anthony, für den sie gebetet hat, oder den Anthony, der hätte sein können. Und sie alle haben das Potenzial, sie binnen eines Augenblicks völlig zu verwandeln, dafür zu sorgen, dass sie weint, sich versteckt, schreit, Gott verflucht, aufhört zu atmen, den Verstand verliert – manchmal alles auf einmal.
Auf dem Weg zur Bank oder zur Tankstelle nahm sie einen Umweg über viele Blocks in Kauf, um ihre Kirche nicht sehen zu müssen. Sie ging nicht mehr ans Telefon. Im letzten Sommer sah sie im Supermarkt einen Jungen, sie schätzte ihn etwa auf Anthonys Alter, der neben seiner Mutter herging. Olivia ging es gut bis zur Chips-und-Snacks-Abteilung, als der Junge fragte: Mom, können wir die kaufen? Er hielt eine Rolle Salz-und-Essig-Pringles hoch, Anthonys Lieblingssnack. Ohne Vorwarnung war mit einem Mal aller Sauerstoff aus dem Geschäft gewichen. Sie stand wie gelähmt da, schnappte nach Luft, ertrank in Panik. Sobald sie sich wieder bewegen konnte, stürzte sie aus dem Geschäft, ließ ihren vollen Einkaufswagen einfach stehen und weinte fast eine Stunde in ihrem Auto, bis sie sich so weit gefangen hatte, dass sie nach Hause fahren konnte. Sie hat die Chips-und-Snacks-Abteilung seitdem nie wieder betreten. Sie ist dort nicht sicher.
Die Welt ist voll von Fallen wie den Salz-und-Essig-Pringles, die sie verschlucken, was ihr durchaus recht wäre, nur dass sie sie dann doch wieder ausspucken und sagen: Und jetzt mach weiter . Jeder will, dass sie jetzt weitermacht. Mach weiter. Blick nach vorn. Sie will nicht. Sie will hier sein, allein am Great Point, weit weg von all den Fallen. Sie will stillstehen, sich nirgends hinbewegen.
Sie kauert sich hin und schreibt mit dem Zeigefinger Alles Gute zum Geburtstag, Anthony in den nassen Sand. Heute wäre er zehn geworden.
Sie erinnert sich an den Tag, an dem er geboren wurde. Seine Geburt war unkompliziert, aber lang. Sie hatte eine natürliche Geburt gewollt, aber nach zwanzig Stunden schmerzhafter und erfolgloser Wehen gab sie sich geschlagen und bat um eine PDA . Zwei Stunden, eine winzige Dosis Pitocin und sechs Wehenschübe später war Anthony geboren. Rosig-violett, die Farbe von Petunien, ruhig und mit weit aufgerissenen Augen. Sie liebte ihn auf Anhieb. Er war schön und voller Versprechungen, ihr kleiner Sohn, der eines Tages Little-League-Baseball spielen würde, der der Star im Schultheaterstück und gut in Mathematik sein würde. Damals wusste sie nicht, dass sie viel bescheidenere Träume für ihren Sohn hätte haben sollen, dass sie ihren neugeborenen Jungen hätte ansehen und denken sollen: Ich hoffe, du wirst lernen, zu sprechen und auf die Toilette zu gehen, bis du sieben bist .
Seine ersten Geburtstage verliefen normal – mit Kuchen, die sie in der Bäckerei auswählte und kaufte, Kerzen, die Olivia ausblies, Geschenken, die sie und David auspackten, übertrieben entzückt und begeistert. Aber er war erst ein und dann zwei Jahre alt, daher war das zu erwarten. Nach dem zweiten Jahr begannen die Geburtstage immer mehr von der Norm abzuweichen.
Anthony wurde nicht mehr zu den Geburtstagspartys anderer Kinder eingeladen, als er vier war, und als er fünf wurde, hielten sie und David es genauso und feierten nur noch im privaten Kreis der Familie. Es war einfacher so. Anthony nahm ohnehin nicht an den Partyspielen teil oder achtete auf
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