Der Liebeswunsch
Gegenstand. Es ist
der Schlüssel ihrer Unterkunft in Köln-Zollstock. Marlene muß ihn in die Seitentasche des Blazers gesteckt haben, damit er
nicht verlorengeht. Jetzt kann sie sich einen Mantel, Wäsche, einen leichten Koffer holen und – das ist die unerwartete neue
Möglichkeit – das Geld, 500 oder 6oo Mark, die sie vor Monaten, als es ihr noch besser ging, für Notfälle vor sich selbst
versteckt und seit längerer Zeit vergessen hat. Der Umschlag muß in einer der unausgepackten Kisten sein, die sie seit über
einem Jahr als Ballast der Vergangenheit mitgeschleppt hat. Das Geld muß noch da sein, und sie kann es holen. Auch wenn sie
riskiert, daß sie in ihrer Wohnung von der Polizei erwartet wird. Seltsam, daß sie auf einmal glaubt, die Tür zur Zukunft
stünde noch ein Stück auf.
Im Bahnhof in Bonn wird sie nicht von der Polizei empfangen. Auch nicht in Köln. Und nicht in der Zollstocker Wohnung, zu
der sie mit dem Taxi fährt. Alles ist dort sauber und aufgeräumt. Marlenes Werk. Auch die Kisten stehen da. Sie weiß nicht,
in welcher sie suchen soll. Es muß eine Bücherkiste gewesen sein, denn sie erinnert sich, daß sie damals gedacht hat, das sei das sicherste Versteck. Sonst weiß sie nichts
mehr und muß anfangen, alle Bücher aus der Kiste auszuräumen. Nach einer halben Stunde ist sie am Ziel. Sie hat einen Umschlag
mit 6oo Mark gefunden, sechs glattgestrichene Hundertmarkscheine. Also besitzt sie jetzt 88o Mark und etwas Kleingeld. Genug
zunächst, um die Stadt, wo man nach ihr suchen wird, zu verlassen.
Wieder auf der Straße, kurz vor der Haltestelle der Straßenbahn, hält Anja ein vorbeikommendes Taxi an und läßt sich zum Bahnhof
fahren. Dort steht sie in der Halle und liest auf der elektronischen Anzeigetafel die Abfahrtzeiten der nächsten Züge, ohne
sich entscheiden zu können, wohin sie fahren will. Als sich aus dem Nebengang eine Doppelstreife der Bahnpolizei nähert, taucht
sie im Menschengewimmel des Hauptgangs unter, von dem auf beiden Seiten die Treppen zu den Bahnsteigen abgehen. Noch immer
weiß sie nicht, wohin, und läuft eine Treppe zu einem IC-Bahnsteig hoch, von dem eine Lautsprecherdurchsage herunterhallt.
Der Zug, der dort abfahrbereit auf dem Gleis steht, fährt nach Cuxhaven. Dort ist sie noch nie gewesen. Niemand wird sie dort
suchen. Das ist es! Sie steigt ein.
Der Zug fährt schon seit einer Viertelstunde, als der Schaffner kommt und sie mit Aufschlag eine Fahrkarte löst.
Am Abend mietet sie ein Zimmer in einem kleinen Hotel, keine Schwierigkeit jetzt, da die Saison schon seit vielen Wochen vorbei
ist. Sie schläft kaum. Doch auch wenn sie wach liegt in dem fremden Zimmer, ist die Unwirklichkeit so mächtig, daß sie glauben
könnte, sie träume. Zwischendurch, ohne einen Übergang, träumt sie wirklich. Sie sitztim Bus, ein Schatten unter Schatten, läuft in wilder, aber vergeblicher Anstrengung über die Brücke. Der schwarze Fischkutter
hat seine Netze ausgebreitet, und sie packt eine Bücherkiste aus, wirft die Bücher auf den Fußboden, ohne auf den Grund der
Kiste zu kommen. Für einen Augenblick wach werdend, weiß sie, daß sie das Geld gefunden hat. Sie hat schon gestern viel davon
ausgegeben – für die beiden Taxifahrten zur Wohnung und zurück zum Bahnhof, die Fahrkarte, die sie im Zug mit Aufschlag kaufen
mußte, das Abendessen – ihre erste Mahlzeit nach dem Frühstück in der Klinik, das nun schon so weit zurückliegt wie in einem
anderen Leben. Morgen muß sie die Hotelrechnung bezahlen. Dann wird sie gehen. Aber wohin? Die Welt ist offen. Aber nicht
mehr für sie. Ja, sie hat das Gefühl, daß sich alles vor ihr verschließt.
Aus diesem Grund ist sie weitergefahren, auf der Suche nach einem Unterschlupf. Diesmal sind es nur wenige Stationen mit einem
Bus. Gleich hinter der Deichstraße mietet sie ein Apartment in einem Wohnturm. Als man sie fragt, wie lange sie bleiben will,
sagt sie, um sich selbst einen Aufschub zu geben: »Ungefähr eine Woche.« Sie muß 300 Mark Vorschuß zahlen und bekommt auf
Wunsch ein Apartment im 14. Stock mit Blick auf das Wattenmeer. Eine Woche – das ist eine dahinschwindende Ewigkeit. Genug
Zeit zu hoffen, daß ein rettendes Wunder geschieht. In den nächsten Tagen läuft sie bis zur Erschöpfung draußen herum. Sie
betäubt sich durch Gehen, kämpft gegen den Wunsch an, sich zu betrinken. Ihren Vorrat an Tabletten hat sie inzwischen
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