Der Liebeswunsch
weiß gestrichenen Zimmers und des weißen Bettzeugs. Es ist ein plötzlicher
Übergang in eine andere, scheinbar eben erst entstandene Welt. Eine Schwester ist da, weiß gekleidet. Sie mißt meinen Blutdruck,
zählt den Puls. Sie nennt die Zahlen und legt meinen Unterarm auf das Bett zurück. Sie ist fort. Ich habe nicht gemerkt, wie
sie gegangen ist. Vielleicht habe ich sie geträumt. Ich habe die Augen geschlossen, um die Helligkeit abzuwehren. Ich weiß
aber ungefähr, wo ich bin. Man hat mich hierhergebracht, aus dem Krankenhaus in diese Entzugsklinik. Man hat mich ruhiggestellt,
weil ich getobt, gezittert und gebrüllt habe. Stille umgibt mich. Und irgend etwas rast in dieser Stille herum – lautlos,
unaufhörlich,wie ein stiller Sturm. Etwas, das ich bin oder das ich war. Ich habe keine Kraft, mich zu erinnern.
In den nächsten Tagen läßt man Anja wacher. Sie darf aufstehen, wird genötigt dazu. Sie lernt die Umgebung ihres Zimmers kennen.
Das Stockwerk mit dem langen Korridor, an dem die numerierten Patientenzimmer aufgereiht sind, und im Querriegel die Aufenthalts-
und Arbeitsräume für die Gesprächs- und Beschäftigungstherapie. Sie wird einer Gruppe zugeteilt und sitzt mit anderen Patienten
an den Bastel- und Maltischen oder in einer Runde, in der jeder über sich selbst sprechen soll, schleppende, flache Stimmen,
wie aufgezogen und von der Therapeutin immer wieder in Gang gesetzt. Keine Angst! Kein Grund, sich zu schämen! Hier kennen
wir alles. Wir sind eine Gemeinschaft von Leuten, die ihre Erfahrungen austauschen und voneinander lernen wollen. Wir wollen
uns gegenseitig kennenlernen, um einander zu helfen. Hier lernen wir, Menschen zu sein.
Auch Anja kommt an die Reihe. Sie soll etwas über ihre Kindheit erzählen. Das ist die Eintrittsbedingung in die Gemeinschaft,
in diesen Kreis der beflissenen und erloschenen Gesichter, die sie alle anschauen und auf ihre Unterwerfung warten. Beichte
uns! Entblöße dich! Dann gehörst du zu uns. Sie ist eingekreist und gefangen, und sie sagt: »Ich habe … ich bin …« Plötzlich
schnürt sich ihr die Kehle zu, und sie kann nicht weitersprechen. Sie stammelt eine Entschuldigung und läuft hinaus. Noch
bevor sie ihr Zimmer erreicht, bricht sie in Tränen aus. Es ist eine innere Flut, die sie überschwemmt. Die Ärztin kommt ins
Zimmer, um sie zu beruhigen.
»Was war das? Was haben Sie denn?«
»Ich weiß nicht«, stammelt sie. »Ich glaube, ich gehe langsam kaputt.«
»Aber nein«, antwortet die Ärztin. Ihre Stimme ist samtweich und warm. »Alles wird sich bessern. Glauben Sie mir. Aber das
braucht Zeit. Wir haben doch Zeit. Sie müssen überhaupt nicht reden, wenn Sie nicht wollen. Es ist nur eine Gelegenheit, sich
auszusprechen. Die meisten Patienten sind dankbar dafür. Vielleicht legen Sie sich jetzt einmal hin und ruhen sich aus.«
Ein aufmunterndes Lächeln, und die Ärztin verläßt das Zimmer, anderswo mit mehr Gläubigkeit und Demut erwartet. Sobald sich
die Tür hinter ihr geschlossen hat, ziehen sich über Anja, die Schatten zusammen, und die Angst öffnet ihren Schlund.
Sie bekam jetzt andere Tabletten, aber sie warf die meisten in die Toilette. Die Valiumtabletten legte sie in ihr abschließbares
Schrankfach zu ihrem Geld, der Scheckkarte, der Karte der Krankenversicherung, all das, was Marlene in ihrer Wohnung sichergestellt
und ins Krankenhaus gebracht hatte. Von dort war es ihr mitgegeben worden, als sie hierher überwiesen worden war. Immer noch
kam das Zittern über sie wie ein Anfall. Dann schluckte sie eine oder zwei Tabletten von ihrem Vorrat. Nachts, wenn die Angst
über sie herfiel, floh sie manchmal aus dem Bett und lief durch die Gänge, in denen das Licht brannte, bis die Nachtschwester
sie ins Bett zurückschickte. Tagsüber verkroch sie sich oft ins Dunkel unter der Bettdecke und versank in einen kurzen Schlaf,
der einer Ohnmacht glich. Einmal tappte abends eine alte Frau in ihr Zimmer, die sich anscheinend verirrt hatte. Sie schien
zu glauben, daß das Bett ihr Bett sei,und ließ sich nur störrisch von der Schwester, die sie gesucht hatte, wieder aus dem Zimmer führen.
Die meisten Patienten der Klinik waren nicht verwirrt, sondern verlangsamt und steif. Wenn sie in der täglichen Gesprächsrunde
zusammensaßen und ihren Kräutertee oder ihren Saft tranken, wirkten sie übervernünftig und angepaßt. Und was sie erzählten,
hörte sich wie die
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