Der Liebeswunsch
vorbeiströmenden Luft.
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Nachspuk
Anja wurde in einer Urne bestattet. Oder um es genau zu sagen – es war ihre Asche. Mit der Befugnis von Leonhard, die amtlichen
Formalitäten zu erledigen, war Marlene nach Cuxhaven gefahren und hatte den völlig zerschmetterten Leichnam identifiziert
und einäschern lassen. Sehen wollte ihn keiner mehr. Als die Urne eingetroffen war, fand zwei Tage später, im engsten Familienkreis,
wie die Formel heißt, die Bestattung auf dem Südfriedhof statt. Ein Friedhofsdiener trug mit regloser Miene die Urne voraus
und führte sie gemessenen Schrittes zur Grabstätte, wo der Blumenschmuck, den sie bestellt hatten, schon niedergelegt worden
war. Alle trugen sie nur noch kleine Sträuße, um sie in das ausgehobene Grab zu werfen. Sie waren zu viert. Leonhard und Marlene
schritten mit einem guten Meter Abstand hinter dem Friedhofsdiener her. Hinter ihnen gingen zwei kleinere Menschen: Anjas
Mutter, die Daniel an der Hand führte. Die Urne hatte in der Friedhofskapelle zwischen zwei brennenden Kerzen auf dem Altartisch
gestanden, als sie eintraten und sich zu einer Gedenkminute nebeneinander in die erste Stuhlreihe setzten. Weiter geschah
nichts. Leonhard hatte auf Musik verzichtet, weil sie nur zu viert waren.
Während des etwa dreihundert Meter langen Weges memorierte Leonhard die Sätze und Worte der kleinenRede, die er am Grab halten wollte. Aber unterwegs zerfiel sie ihm. Alles, was sich sagen ließ, kam ihm falsch und verlogen
vor. Und so standen sie eine Weile in beklommenem Schweigen vor dem mit einem grünen Kunststoffnetz ausgekleideten Erdschacht,
in den der Friedhofsdiener die Urne versenkt hatte. Wie zur Beschwichtigung der Toten warfen sie ihre Blumen hinein, Leonhard
und Marlene auch eine Schaufel Erde. Dann wandten sie sich ab. Marlene mußte gleich in die Klinik, Leonhard am Nachmittag
ins Gericht.
Anjas Mutter träumte in der Nacht, sie ginge durch eine belebte Straße und dicht vor ihr spränge mit schepperndem Geräusch
ein großer Teekessel her. Ab und zu klappte der Deckel auf, und Anjas kahlgeschorener Kopf schaute heraus. Er war so klein
wie ein Apfel und schrie mit einer hohen verzweifelten Stimme. Dann klappte der Deckel wieder zu. Der Kessel hüpfte weiter
wie besessen vor ihr die Straße entlang, und Anjas schreiender Kopf erschien wieder und verschwand. So wiederholte es sich.
Dann wurde der Abstand größer, doch die kurzen, schrillen Schreie waren immer noch zu hören. Es gingen viele Leute durch die
Straße, doch niemand außer ihr schien den Vorgang zu bemerken.
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Inhalt
1 Eine plötzliche Erinnerung 7
2 Spurensuche 20
3 Aus der Vorgeschichte einer Ehe 28
4 Auf der Hochzeitsreise 49
5 Marlenes Erzählung 1 72
6 Abgleitende Gedanken 93
7 Nach dem Romméabend 100
8 Ein Richterspruch 123
9 Marlenes Erzählung 2 147
10 Ein allmählich wachsender Verdacht 178
11 Am fremdesten Ort 214
12 Risse 238
13 Augenblicke der Wut 271
14 In the summertime when the weather is fine 298
15 In der Klausur 320
16 Marlenes Erzählung 3 350
17 Zerfallszeit 382
18 Nachspuk 396
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Bibliographie: Dieter Wellershoff
(einschließlich Neuauflagen)
Gottfried Benn – Phänotyp dieser Stunde. 1958/86
Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus,Benn und Beckett. 1963/75
Ein schöner Tag. Roman, 1966/69/81
Die Schattengrenze. Roman, 1969/71/81
Literatur und Veränderung. Essays, 1969/71
Das Schreien der Katze im Sack. Hörspiele, 1970
Einladung an alle. Roman, 1972/86/88/93
Literatur und Lustprinzip. Essays, 1973/75
Doppelt belichtetes Seestück und andere Texte, 1974
Die Auflösung des Kunstbegriffs. Essays, 1976
Die Schönheit des Schimpansen. Roman, 1977/2000
Glücksucher. Vier Drehbücher und begleitende Texte, 1979
Die Wahrheit der Literatur. Sieben Gespräche, 198o
Das Verschwinden im Bild. Essays, 198o
Die Sirene. Novelle, 1980/82/92/96
Der Sieger nimmt alles. Roman, 1983/86/95
Die Arbeit des Lebens. Autobiographische Texte, 1985
Die Körper und die Träume. Erzählungen, 1986/89/93
Flüchtige Bekanntschaften. Drei Drehbücher und begleitende Texte, 1987
Wahrnehmung und Phantasie. Essays, 1988
Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt, 1988
Pan und die Engel, Ansichten von Köln, 1990/99
Blick auf einen fernen Berg, 1991/93
Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur, 1992
Im Lande des Alligators. Floridanische Notizen. Ein Reisebericht, 1992
Zwischenreich. Gedichte,
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