Der Liebhaber meines Mannes
zurechtzuweisen. Wie ich mich irrte. Selbst jetzt wünschte ich, ich hätte es Alice Rumbold an jenem ersten Tag nicht durchgehen lassen.
ETWAS SELTSAMES GESCHIEHT , während ich schreibe. Ich sage mir immer wieder, dass das, was ich schreibe, ein genauer Bericht der Ereignisse ist, der meine Beziehung zu Tom erklären soll, und alles andere, was dazugehört. Natürlich wird es bald immer schwieriger werden, über
alles andere
zu schreiben – was der eigentliche Grund ist, überhaupt zu schreiben. Aber ganz unerwartet macht es mir ungeheuren Spaß. Meine Tage haben jetzt einen Sinn wie nicht mehr, seitdem ich vom Schuldienst pensioniert wurde. Ich schreibe auch über alle möglichen Dinge, die dich vielleicht nicht interessieren, Patrick. Aber das ist mir egal. Ich will mich an alles genau erinnern, für mich und auch für dich.
Während ich schreibe, frage ich mich, ob ich jemals den Mut haben werde, es dir tatsächlich vorzulesen. Das ist immer mein Plan gewesen, aber je näher ich
allem anderen
komme, desto unwahrscheinlicher scheint es.
Heute Morgen warst du besonders schwierig. Du hast dich geweigert fernzusehen, obwohl ich umgeschaltet hatte, von »Heute Morgen«, das wir beide hassen, zu einer Wiederholung von »As Time Goes By« auf BBC2. Magst du Dame Judi Dench nicht? Ich dachte, jeder mag Dame Judi Dench. Ich dachte, die Verbindung von klassischer Theatralik und nette Frau von nebenan (das ›I‹ in ihrem Namen drückt so viel aus, findest du nicht?) mache sie unwiderstehlich. Und dann der Vorfall mit den pürierten Cornflakes, wie die Schüssel umkippte und Tom ein heftiges »Na« ausstieß. Ich wusste, dass du noch nicht ganz so weit warst, um zum Frühstückam Tisch zu sitzen, selbst mit deinem speziellen Besteck nicht und all den Kissen, die ich besorgt hatte, um dich zu stützen, wie Schwester Pamela vorgeschlagen hatte. Ich muss sagen, ich finde es schwierig, mich darauf zu konzentrieren, was Pamela sagt, so sehr bin ich fasziniert von den langen Stacheln, die von ihren Augenlidern abstehen. Ich weiß, dass es nicht besonders ungewöhnlich ist, dass mollige Blondinen von Ende zwanzig falsche Wimpern tragen, aber es ist eine sehr merkwürdige Kombination – Pamelas ordentliche weiße Uniform, ihre sachliche Art und ihre Partyaugen. Sie erklärt mir immer wieder, dass sie jeden Morgen und jeden Abend eine Stunde kommt, damit ich eine »Auszeit« habe, wie sie es nennt. Aber ich nehme mir keine Auszeit, Patrick: Ich nutze die Zeit, um das hier zu schreiben. Jedenfalls war es Pamela, die gesagt hat, ich solle dich so oft wie möglich aus dem Bett holen, zum Beispiel um am »Familientisch« an den Mahlzeiten teilzunehmen. Heute Morgen habe ich gesehen, dass deine Hand völlig ziellos war, als du den Löffel zum Gesicht führtest, und ich wollte dich aufhalten, hinüberlangen und dein Handgelenk halten, aber kurz bevor er deine Lippen berührte, hast du mich angesehen und deine Augen glühten so unergründlich – in dem Moment dachte ich, vor Zorn, aber jetzt frage ich mich, ob es nicht eine Art Flehen war – dass ich abgelenkt wurde. Also: wamm! Kippte sie um, milchige Flüssigkeit tropfte in deinen Schoß und auf Toms Schuhe.
Pamela sagt, dass bei einem Schlaganfallpatienten das Gehör das letzte Sinnesorgan ist, das ausfällt. Auch wenn man nicht sprechen kann, kann man hervorragend hören, sagt sie. Das muss so ähnlich sein, als wäre man wieder ein Kleinkind, das verstehen kann, was andere sagen, aber nicht in der Lage ist, mit dem Mund die Laute zu bilden, die notwendig sind, um auch richtig zu sprechen. Ich frage mich, wie lange du das aushalten kannst. Darüber hat niemand etwas gesagt. Inzwischen hasse ich den Satz »Daskann niemand sagen«. Wie lange noch, bis er wieder auf den Beinen ist, Doktor?
Das kann niemand sagen.
Wie lange noch, bis er wieder sprechen kann?
Das kann niemand sagen.
Wird er noch einen Schlaganfall erleiden?
Das kann niemand sagen.
Wird er wieder vollständig genesen?
Das kann niemand sagen.
Die Ärzte und Schwestern sprechen von den nächsten Maßnahmen – Physiotherapie, Sprachtherapie, sogar psychologische Betreuung, wegen der Depression, die einsetzen kann, wie man uns gewarnt hat – aber niemand kann voraussagen, wie die Chancen sind, dass irgendetwas davon tatsächlich etwas bewirkt.
Ich habe das Gefühl, dass es am meisten zu deiner Genesung beiträgt, dass du hier, unter diesem Dach bist.
Ende September 1957. Frühmorgens am
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