Der Lilienring
Eingang befanden sich die Remisen und Ställe, links die Wirtschaftsräume, die Küchen und die Vorratskeller, vor uns der herrschaftliche Wohntrakt. Von ihm war die Hälfte eingestürzt, angeblich bei einem Brand vernichtet worden. Über dem Eingang befand sich ein Wandelgang, der die Kapelle auf der einen und einen weiteren Wohnturm auf der anderen Seite verband. Wir stiegen die breiten Steinstufen im Turm hinauf und schlenderten über den Wandelgang. Dann durchquerten wir die gewölbten und wunderschön getäfelten Räume über den Küchen und betraten die Wohnräume. Vereinzelt standen alte Möbel darin, und zwei Kleiderpuppen in historischen Kostümen luden mit ihren Gesten ein, sich umzuschauen. Doch ich ging zum Fenster hin. Durch die bleiverglasten Scheiben sah man das, was früher einmal eine prächtige Gartenanlage gewesen sein musste.
»Vielleicht hat Marie-Anna hier ebenfalls gestanden und in den Garten geschaut«, meinte Rose und fuhr mit Interesse mit dem Finger über die Verbleiung der Scheiben.
»Sogar sehr wahrscheinlich.«
»Hast du irgendein Gefühl der Vertrautheit?«
»Nein, nicht in der Art des Erinnerns. Aber es erscheint mir auch nicht fremd. Wie eigentlich alles hier in der Gegend. Gehen wir weiter.«
Wir durchquerten Hallen und Gemächer, Kammern
und Wirtschaftstrakte und die Kapelle und kamen wieder zu dem offenen Wandelgang. Ich lehnte mich an die Mauer und schaute zum Himmel auf. Es war glücklicherweise keine Feriensaison, wir waren ganz allein in dem Areal.
»Jetzt hat sich die dunkle Wolke etwas gelüftet, Anita, nicht wahr?«
»Ja, das hat sie. Ich fühle mich etwas gelassener. Aber dennoch …«
»Was denn, Anita?«
»Valerius – weißt du, wenn es stets so endet... Erst finden sie ihre große Liebe, wenige Tage geht es gut, dann sterben Annik, Anna und Marie-Anna. Und ich? Wenn Valerius wirklich kommt, und wir wirklich zueinander finden – werde ich dann auch sterben?«
»Anita, du hast immer darauf bestanden, das seien alles nur Geschichten, und ich soll die nicht so wörtlich nehmen!«, mischte sich Cilly ein.
Ich musste lächeln.
»Mit den eigenen Waffen geschlagen.«
»Na ja, ich wollte nur sagen, dass ich weiß, was du fühlst. Es geht einem unter die Haut, nicht? Vor allem, weil wir jetzt wissen, worauf euer Vater sie aufgebaut hat.«
»Das wissen wir jetzt tatsächlich. Obwohl er einiges natürlich erdichtet hat.«
»Er hat einiges erdichtet, und trotzdem – du denkst doch sonst so schrecklich logisch – hast du das verbindende Muster nicht erkannt, Anahita.«
Es berührte mich seltsam, dass meine Schwester mich mit meinem Taufnamen ansprach.
»Nein, ich habe das Muster nicht erkannt. Vermutlich, weil ich so logisch denke. Siehst du es, Rose?«
»Es liegt klar vor uns. Sieh mal – Cullen, der Barde, bringt Martius, den Krieger, um. Marcel, der Söldner, tötet
Valeska, das Mädchen. Graciella, das Mädchen, verursacht den Tod von Ursula, der Mutter. Und Uschi, die Mutter, verschuldet den Tod von Julian, dem Barden. Der Kreis ist geschlossen. Der Ring vollendet.«
Ich machte die Augen zu. Ich dachte gar nichts mehr. Lange Zeit waren meine Gedanken ganz still. Dann tröpfelte die Erkenntnis in mein Bewusstsein. Julian, der Barde, der die Muster des Lebens entziffern konnte, hatte uns diese Geschichten geschenkt, damit auch wir sie erkannten. Wenn er das sich wiederholende Muster aber gesehen hatte, musste er gewusst haben, dass sein Tod nahe war. Und ebenso, wer ihn verursachen würde.
Er hatte nichts dagegen getan.
Er hatte das Schicksal angenommen.
Jedes Mal war der Tod einer der Personen Auslöser für den Tod von Annik, Anna und Marie-Anna gewesen.
Nach Julians Tod wäre auch ich beinahe gestorben.
Doch wäre Julian nicht zu diesem Zeitpunkt umgekommen, ich hätte in dem explodierenden Flugzeug gesessen.
So trug ich nur die Narbe in meinem Gesicht als Erinnerung daran.
Und bewahrte die drei Bilder im Gedächtnis, die ich gesehen hatte, bevor ich unter den glühenden Trümmern das Bewusstsein verlor – ein Dorf in Flammen, eine lodernde Holzscheune und das Auseinanderbersten eines fest gemauerten Munitionsdepots. Ich hörte wieder die Stimme. Und nun wusste ich, es war seine, Julians Stimme, die sagte: »Diesmal nicht!«
»Anahita, was wünschst du dir?«, hörte ich meine Schwester leise neben mir fragen. »Hast du über die Zukunft nachgedacht?«
»Ich habe es bisher nicht gewagt, Rose.«
»Marie-Anna wäre wohl mit ihrem Valerian
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