Der Lockvogel
noch eine Runde schwimmen, bevor alle anderen aufwachten. Doch sobald er den Gedanken gefasst hatte, wusste er, dass er nicht gehen würde; er war noch nicht bereit dafür, seine Arbeitsroutine wiederaufzunehmen. Was hatte er heute vor? Einen Haufen Dinge, an die er seit Beginn seines Urlaubs keinen Gedanken mehr verschwendet hatte: Fälle, Klienten, Rechnungen. Hammer über Tourna Bericht erstatten und entscheiden, ob sie sein Geld nehmen sollten. Das allein konnte den ganzen Tag dauern.
Er hörte, wie im Raum über ihm eine Diele knarrte. Nancy war aufgestanden. Jeden Morgen kam sie herunter und stand so lange schweigend an seiner Seite des Bettes, bis etwas in seinem Unterbewusstsein ihm sagte, dass sie da war. Eine leicht beunruhigende Art, die Welt zu begrüßen.
Er legte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zur Tür, und
schloss die Augen. Sie bewegte sich sehr leise, er hörte sie kaum den Raum betreten. Er ließ sie einen Moment lang neben dem Bett stehen, dann schoss seine Hand unter der Decke hervor, und er zog sie ins Bett. Mit einer Drehung lag er auf dem Rücken und sie auf seiner Brust. Ihre Füße waren kalt auf seinen Beinen.
»Daddy!«
»Hast du mich vermisst?«
Statt einer Antwort setzte sie sich auf und trommelte mit den Händen einen Rhythmus auf seinen Bauch. Er griff sie unter den Armen und hielt sie über sich, ihr pausbäckiges Gesicht lächelte über seinem, ihr Haar fiel nach unten. Sie war schwer geworden, doch seine Daumen trafen sich immer noch vor ihrer Brust.
»Hast du mich vermisst?«
»Nicht kitzeln.«
»Ich kitzle dich nicht. Hast du mich vermisst?«
Nancy kicherte. Er drückte kaum wahrnehmbar zu.
»Nicht kitzeln! Ja! Ja!«
Er ließ sie nach unten purzeln. Sie hob den Kopf. »Hast du mir ein Geschenk mitgebracht?«
»Ich war doch nur eine Nacht weg.«
»Zwei Nächte.«
»Ich weiß. Tut mir leid. Der Flug zurück war furchtbar.«
»Ein ganz kleines?«
»Auch kein ganz kleines. Nichts. Frühstück, wenn du magst.« Er stützte sich auf sein Kissen und schaute sie an. »Ist Daniel wach?« Sie schüttelte den Kopf.
»Was macht er?«
»Für mich auch kein Geschenk?« Elsa war wach. Sie hatte ihm immer noch den Rücken zugewandt.
»Guten Morgen, Baby. Nein. Es gibt nicht viel zu kaufen in Datça.«
Sie drehte sich auf die andere Seite und stützte den Kopf in die Hand. Ihre Augen waren noch voller Schlaf. »Tee, bitte.«
»In einer Minute.« Nancy strich mit dem Finger über sein Kinn und befühlte die Bartstoppeln.
»Wie war’s?«, fragte Elsa.
»Schön. Heiß.«
»Hier genauso. Wie war dein Milliardär?«
»Sonnengebräunt und reich. Obwohl ich nicht sicher bin, dass seine Milliarden wirklich alle ihm gehören.«
»Mochtest du ihn?«
»Nicht besonders.«
»Hm. War es die Reise wert?«
»Es ist der beste Fall, den ich je vorliegen hatte.«
»Groß?«
»In jeder Hinsicht. Aber wir sollten ihn nicht annehmen.«
»Warum nicht?«
»In gewisser Weise geht es um einen Regimewechsel. Solche Fälle bedeuten immer Ärger.«
»Tee.« Elsa rückte näher heran und strich mit der Hand über Nancys Rücken.
»Fünf Minuten. Wenn Daniel herunterkommt, mache ich den Kindern Frühstück.« Er schaute sie an. Ihre Augen waren geschlossen. Jemand hatte einmal gesagt, dass Nancy sein Aussehen und Elsas Schönheit geerbt hatte. Hübsch formuliert, aber wahr. »Wie lief es gestern? Tut mir leid, dass ich so spät war.«
»Mit Thomas? Schrecklich. Seine Mutter will, dass er
nicht mehr kommt. Sie meint, es geht ihm schlechter, wenn er darüber redet.«
»Das ist traurig.«
»Allerdings.« Sie schaute zu Nancy. »Ich kann dir später mehr erzählen.«
Eine Zeit lang lagen sie zu dritt dort, Nancy zupfte an den Haaren an Websters Halsansatz und Elsa schaute ihr dabei zu.
»Welches Regime?«, fragte sie schließlich.
Webster drehte sich zu ihr um.
»Es ist nicht wirklich ein Regime. Es ist ein Mann. Der korrupteste in ganz Russland, würde ich sagen.«
»Und was wäre dein Auftrag?«
»Ihn bloßzustellen.«
»Das würde dir gefallen.«
»Ja, das würde es. Er hat es verdient.«
Zwei Tage zuvor war Webster vor Sonnenaufgang im Gästezimmer erwacht. Er hatte seinen Wecker so leise wie möglich eingestellt, die Tasche war gepackt, seine Kleidung für den Tag hing bereits an der Tür. Elsa und die Kinder schliefen noch in dem stillen Haus. Er hatte sich in Gatwick mit den Urlaubern in die Schlange gestellt und in Dalaman eine halbe Stunde lang auf ein Taxi gewartet.
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