Der Lockvogel
Knie ist angewinkelt, sie scheint die Wand anzustarren. Ihre Jeans sind durchweicht und dunkel, das T-Shirt purpurrot. Quer über ihren angespannten Hals verläuft, wie mit einem dicken Pinsel gezogen, eine einzelne leuchtend rote Linie Blut.
Webster schreit und versucht sich zu befreien. Starke Hände halten ihn zurück.
Er wehrt sich immer noch, als sie ihm Handschellen anlegen und ihn in einen Polizeitransporter sperren. In seinem Kopf rauscht es. Während das Auto die ansteigende Straße erklimmt, die aus der Stadt hinausführt, kann er durch die vergitterten Fenster nur den wolkenlosen Himmel sehen.
Zwei Stunden später halten sie an. Über den immer noch laufenden Motor hinweg hört er russische Stimmen. Die Türen öffnen sich, der Käfig wird aufgeschlossen, und er stolpert gebückt nach draußen, sein Gesicht verzerrt in der plötzlichen Helligkeit. Ein Polizist, der ihm nicht in die Augen schauen kann, schließt seine Handschellen auf und gibt ihm seine Taschen. Der Transporter wendet auf der staubigen Straße und fährt davon.
Soldaten mit Maschinenpistolen starren ihn an. Das ist die Grenze. Er ist wieder in Russland.
2009
1
Lock lag auf dem Rücken und spürte, wie die Hitze seinen Körper nach Stellen absuchte, die sie noch verbrennen konnte. Es war windstill, und durch die geschlossenen Augenlider hindurch sah er das rote Lodern der Sonne. Von Zeit zu Zeit begann eine lauernde Unruhe an ihm zu nagen, doch er verscheuchte sie wie eine Fliege. Er war nicht in Moskau, das genügte. Er fühlte seinen Körper bernsteinfarben erglühen, er spürte eine Leichtigkeit in seiner Brust. Wie viel besser es ihm hier ging.
Um ihn herum lagen andere Urlauber auf Sonnenliegen. Eine Bedienung lief mit leisen, flinken Schritten vorbei. Das Geräusch gedämpfter Unterhaltungen ließ ihn wegdösen; dann, laut und eindringlich, die eine Hälfte eines Telefongesprächs – natürlich auf Russisch, was sonst. Er konnte nur einzelne Worte verstehen, aber er erkannte den Tonfall: gebieterisch und fordernd. Er öffnete die Augen und überlegte, ob er sich noch einen Drink holen sollte. Einen Moment lang starrte er in den makellosen Himmel hinauf, umspült von der Hitze, dann stützte er sich auf einen Ellenbogen auf. Der Schmerz in seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Sein verdammter Rücken.
Oksana lag vielleicht einen Meter neben ihm auf dem Bauch, frisch gebräunt. Ihr Gesicht war ihm zugewandt,
aber die Augen waren geschlossen, und er hätte nicht sagen können, ob sie schlief. Er schaute an sich selbst hinunter. Seine Haut war blass. Er sonnte sich seit drei Tagen, trotzdem sah er immer noch grau aus.
An diesem Morgen hatte sein Rücken ihn früh geweckt. Er hatte Oksana schlafen lassen und war joggen gegangen. Er zog sich im Bad an, um sie nicht zu wecken. Seine Laufschuhe hatten sich fremd angefühlt, und sein Shirt spannte. Unmittelbar vor Sonnenaufgang war Monte Carlo kühl und friedlich, überwölbt von einem Himmel, dessen dunkles Blau sich am Horizont langsam aufzuhellen begann, und Lock war, anfangs schwerfällig und dann mit einer Art angestrengtem Rhythmus, am Jachthafen vorbeigejoggt. Er folgte einem Uferweg, der weg von der aufgehenden Sonne gen Westen führte. Seine Rückenschmerzen ließen nach, und er lief weiter, seine Atemzüge wurden schwerer. Er verfluchte die ölige Luft Moskaus, während er sich am Anblick der Welt erfreute, die um ihn herum allmählich aus der Dämmerung auftauchte. Und dann war der Pfad plötzlich zu Ende gewesen, dort, wo Monaco einfach aufhört. Keuchend war Lock am Wegesrand stehen geblieben, hatte sich nach vorn gebeugt und gespürt, wie das Gewicht seines Körpers leicht vor und zurück schwankte, während das Herz in seiner Brust pochte.
Morgen würde er wieder laufen gehen, aber besser auf das richtige Tempo achten und sich vielleicht einen längeren Weg suchen. Jetzt brauchte er einen Drink. Er winkte der Bedienung, ihm das Gleiche noch einmal zu bringen, und nach einer Minute kam sie mit Scotch und Soda. Er setzte sich auf und trank. Der Drink seines Vaters. Wie er das zerstoßene Eis und das lange, zierliche Glas verachtet
hätte. Wie er ganz Monaco verachtet hätte, wenn man es recht bedachte. Urlaub hatte für ihn bedeutet, im Harz zu wandern oder auf dem Ijsselmeer zu segeln, mit Lock und seiner Schwester als unfreiwilliger Crew. Aktivität war die eine Konstante dieser Ferien gewesen, die andere Konstante war ein ordentlich in einer Aluminiumkiste
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