Der Maedchenmaler
Wange gepresst, als wollte er sie nie wieder loslassen. Ilka wagte nicht, sie wegzuziehen. Sie war froh, dass sich der Tisch zwischen ihnen befand. Fieberhaft überlegte sie, was sie antworten sollte.
Ruben schloss die Augen. Er küsste die empfindliche Stelle an ihrem Handgelenk.
Entsetzt bemerkte Ilka, dass die Härchen an ihren Armen sich aufrichteten. Ruben sah ihr in die Augen. Er lächelte nicht mehr. Sein Blick hielt ihren fest. Es war wie damals. Als hätte es die Zeit danach gar nicht gegeben.
Ilkas Mund war wie ausgetrocknet. Vielleicht hatte Ruben diese Macht. Die Zeit zurückzudrehen. Oder einfach zu überspringen. Vielleicht war sie ihm immer ausgeliefert gewesen und hatte sich nur Illusionen gemacht. Vielleicht war auch Mike bloß ein Traum gewesen.
Nein. Sie riss die Hand zurück. Sofort veränderte sich Rubens Blick. Ilka konnte Ungeduld erkennen und erste Anzeichen von Zorn.
»Du kannst die Jahre nicht auslöschen, weil sie zu meinem Leben gehören«, sagte sie. »Genauso wie zu deinem.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe diese Jahre nur für ein Ziel genutzt - dich zurückzuholen. Darüber hinaus bedeuten sie mir nichts.«
»Aber mir.« Ilka lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, so weit es ihr möglich war.
»Und was?« Ruben hatte ihre Bewegung wahrgenommen. Er runzelte die Stirn. »Was bedeuten sie dir?«
»Ich ¦ hab mich verliebt.«
Sie war auf einen Wutausbruch gefasst gewesen, nicht jedoch darauf, dass Ruben lachte. Er schlug mit beiden Händen auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte, warf den Kopf zurück und brach in Gelächter aus. Es war kein gutes Lachen. Es war das Lachen eines Menschen, der gelernt hatte, der Welt mit Verachtung und Zynismus zu begegnen.
Das Gelächter brach so abrupt ab, wie es begonnen hatte. Rubens Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er erhob sich von seinem Stuhl und beugte sich so weit über den Tisch, dass sie seinen Atem auf der Haut spüren konnte.
»In diesen dummen Jungen?«
Ilka vergaß alle Vorsicht. »Er hat einen Namen: Mike. Und er ist das Beste, was mir in meinem Leben begegnet ist.«
Ruben starrte sie an. Holte aus. Und schlug ihr ins Gesicht.
So weit hatte sie ihn gebracht! Ruben floh aus der Wohnung. Er konnte Ilkas Anblick nicht länger ertragen. Er schnappte sich die Jacke, verließ das Haus und holte den Wagen aus der Garage. Weg hier! Bloß weg! Damit er nicht ganz die Kontrolle verlor.
Fünf Grad minus auf der Außentemperaturanzeige. Die Landschaft sah im Licht der Scheinwerfer aus wie das Bühnenbild zu einem Wintermärchen. Alles so weiß, so unberührt und so vollkommen.
An einem Waldrand stellte er das Auto ab und lief ein Stück. Die Kälte schmerzte auf der Haut. Das war gut. Es zeigte ihm, dass er lebendig war und dass es sich lohnte zu kämpfen. Allmählich wurde er ruhiger.
Ilka hatte sich das selbst zuzuschreiben. Wieso musste sie ihn derartig reizen? Das Beste, was ihr begegnet war! Er verzog die Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln. Dieses Bürschlein! Kein Mädchen von Ilkas Format konnte an so einem Gefallen finden.
Der Raureif knirschte unter seinen Schritten. Ruben betrat den Wald. Sofort umfing ihn tiefste Dunkelheit.
Es ist stockfinster. Sie halten sich an den Händen. Der Wald ist auf einmal ganz fremd. Als hätte er tausend Augen. Ruben ist so unheimlich zumute, dass er anfängt zu schwitzen.
Doch das darf Ilka nicht merken. Er ist fünf Jahre älter als sie. Schon immer ist er ihr Beschützer gewesen.
»Lass uns nach Hause gehn«, flüstert Ilka. »Ich hab Angst.«
»Brauchst du nicht«, sagt er. »Ich pass auf dich auf.«
Der Druck ihrer Hand verstärkt sich. Sie summt ein Lied, macht sich Mut. Sie hat dieses Abenteuer nicht gewollt.Trotzdem ist sie mitgegangen. Mitten in der Nacht.
Er braucht das ab und zu - einen Nervenkitzel, der ihn schneller atmen lässt. Die Tage sind so einförmig. Gestern ist wie heute, wie morgen. Er kann das nicht, immerzu dasselbe tun, ewig gleiche Erwartungen erfüllen, hübsch brav in der Spur bleiben. Er will nicht irgendwann aufwachen und feststellen, dass er zu Stein geworden ist, für alle Zeiten hart und fest und kalt und unveränderlich.
Ilka ist wie ein Schmetterling, flattert hierhin und dorthin, leicht und unbeschwert. Sie ist jeden Tag anders, kann sich an allem erfreuen. Manchmal denkt er, sie und das Glück sind eins.
Sie drehen ihre Runde durch den Wald, so still, dass sie den Atem des andern hören. Auf der Lichtung
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