Der Maedchenmaler
unwillkürlich lächeln.
»Gut. Dann packe ich jetzt weiter. Ich ruf dich von unterwegs noch mal an.«
»Tu das.« Jette seufzte erleichtert auf. »Ich wünsch dir eine schöne Reise.«
Nachdenklich legte Imke das Telefon aufs Bett. Sie nahm ein Jackett aus dem Schrank, trat damit ans Fenster und sah hinaus. Der Winter hatte das Land fest im Griff. Auf einem der Zaunpfosten hockte verfroren der Bussard. Er hatte sich irgendwann auf Imkes Grund und Boden niedergelassen und sie empfand seine Anwesenheit als tröstlich.
Er war ihr Wächter. Solange es ihn gab, würde ihr und denen, die sie liebte, nichts zustoßen. Sie würde weiter fest daran glauben.
Der Bussard drehte den Kopf in ihre Richtung. Als hätte er ihre Gedanken gehört.
»Pass auf meine Tochter auf«, bat sie ihn leise und wandte sich wieder ihrem Koffer zu.
An einem Rasthof hielt Ruben an. Er hatte noch nicht gefrühstückt und allmählich tat ihm vor Hunger der Magen weh. Es war kein besonders schöner Rasthof, aber welcher Rasthof war das schon? Alles auf modern gestylt, hohe, große Fenster, das immerhin, viel Holz und Glas, aber keinerlei Flair.
Die Küchengerüche hatten sich im Raum gesammelt, vermischten sich mit dem Zigarettenrauch, der grau über den Tischen lag, und nahmen Ruben für einen Moment den Atem. Er entschied sich für ein Käsebrötchen, ließ sich einen Kaffee einlaufen und ging mit dem Tablett zur Kasse. Die junge Frau, die dort saß, schäkerte mit einem Gast. Als sie lachte, bemerkte Ruben, dass ihr ein Schneidezahn fehlte. Trotzdem fand er sie hübsch, vor allem ihr Lachen.
Er suchte sich einen Tisch am Fenster, fing an zu essen. Das Brötchen war erstaunlich frisch. Es krachte beim Hineinbeißen und die Krümel spritzten in alle Richtungen. Ruben nahm den ersten Schluck Kaffee und spürte, dass er auf eine geradezu blödsinnige Weise glücklich war. Er hätte die ganze Welt umarmen mögen, angefangen bei der immer noch schäkernden Kassiererin bis hin zu den Businesstypen am Nebentisch, die aussahen wie geklont und deren Stimmen plötzlich etwas geradezu Unwiderstehliches hatten.
»Das machst du«, flüsterte er. Und lächelte.
Nach langer, mühsamer Suche war er fündig geworden. Mit fünf Maklern hatte er in Kontakt gestanden. Jeder hatte sich bei ihrem ersten Treffen das Foto angeschaut und dann den Kopf gehoben. »Wie ähnlich muss das gesuchte Objekt diesem hier denn sein?«
»So ähnlich wie möglich«, hatte Ruben geantwortet.
Sie hatten ihm wenig Hoffnung gemacht, dass ein solches Haus zu finden wäre. Einige hatten ihm geraten, es originalgetreu nachbauen zu lassen. Das sei einfacher und wahrscheinlich auch preiswerter.
Doch ein neu gebautes Haus hätte einen eklatanten Makel gehabt - es wäre ein neues Haus gewesen. Es musste aber ein altes Haus sein. Ein Haus, in dem Menschen gelebt hatten. Das Spuren davongetragen hatte, genau wie das Gesicht eines alten Menschen. Ruben wollte keine Kulisse. Er wollte etwas Echtes.
»Nein«, hatte er mit einem leisen Unterton von Verachtung gesagt. »Ich bin nicht der Typ fürs Häuslebauen.«
»Und warum erwerben Sie nicht einfach das Original?«, hatte einer der Makler gefragt und auf das Foto gezeigt.
»Es existiert nicht mehr.« Ruben hatte das ganz beiläufig geäußert. Er durfte nicht zu viel verraten. Jedes falsche Wort konnte eine Fährte legen, die später zu ihm führen würde. »Um aufrichtig zu sein«, hatte er hinzugefügt, weil der Makler wie ein Mann gewirkt hatte, dem Aufrichtigkeit über alles ging, »um aufrichtig zu sein - es handelt sich um reine Sentimentalität. Ich möchte etwas wiederfinden, was ich verloren habe, verstehen Sie?«
Ruben hatte nicht nach dem exakten Ebenbild seines Elternhauses gesucht. Das Haus sollte ihm nur möglichst ähnlich sein. Es sollte denselben Geist haben, dieselbe Ausstrahlung. Allerdings ohne die Gespenster der Vergangenheit.
Und dann hatte er es gesehen. Fast alles hatte mit dem Bild in seiner Erinnerung übereingestimmt. Es war so überwältigend gewesen, dass er nach Luft gerungen hatte.
Er war angekommen. Endlich.
Ruben tauchte aus seinen Gedanken auf und betrachtete die Leute an den anderen Tischen. Sie alle waren unterwegs. Die meisten von ihnen hatten ein Ziel. Wie Ameisen bewegten sie sich von einem Ort zum nächsten, schleppten ihre Lasten und bauten ihre Nester. Rastlos und unermüdlich.
Er ging hinaus, ohne sein Tablett wegzuräumen. Er fuhr noch ein Stück und verließ dann die
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