Der Makedonier
benutzen zu können. Sie ritten nach Lust und Laune über die weite Ebene nördlich der Stadt, jagten ein paarmal hinter Wildschweinen her, die plötzlich knapp außer Reichweite ihrer Speere aus einem Gebüsch auftauchten und ebenso plötzlich wieder verschwanden, und führten dann wieder spielerische Angriffe gegen einen unsichtbaren Gegner aus. Es war der ziellose Zeitvertreib von Knaben, die nichts anderes zu tun haben, als freudig Männer zu werden.
Als schließlich ihre Schatten auf dem gelben Gras immer länger wurden, wandten sie sich wieder der königlichen Hauptstadt zu, deren Gebäude sich als gezackter Umriß gegen den Horizont abzeichneten. Es war schon beinahe dunkel, als sie ihre Pferde in die Obhut der Knechte in den königlichen Stallungen gaben.
»Ich hab’ Hunger«, verkündete Philipp, als würde ihn diese plötzliche Erkenntnis überraschen. »Hoffentlich hat Alkmene uns unser Abendessen aufgehoben.«
Natürlich hatte Alkmene, die so etwas nicht dem Zufall überließ, ihnen ihr Essen aufgehoben. Sie setzten sich an den Holztisch in ihrer Küche, und Alkmene füllte ihnen die Schüsseln mit einem Eintopf, dessen Duft ihnen verführerisch in die Nase stieg.
Während sie aßen, tadelte Alkmene Philipp – weil er so spät nach Hause gekommen war, weil er sein Leben auf »diesem schrecklichen Tier« riskierte, weil er überhaupt so unbesonnen war –, doch dabei nannte sie ihn immer nur »Prinz« und »mein Gebieter«. Sie war etwa dreißig Jahre alt, ein rundliches, mütterliches Wesen mit den hellblauen, verzweifelten Augen einer Frau, die nach der Totgeburt nicht wieder schwanger geworden war. Philipp war der Abgott ihres Lebens, und sie überschüttete ihn mit der ganzen Liebe, die sie ihren eigenen ungeborenen Kindern nicht schenken konnte.
Doch Philipp entgegnete ihr nichts, er hörte nicht einmal richtig zu. Seit er denken konnte, lag Alkmene ihm mit ihren Klagen in den Ohren. Sie waren mütterliche Liebkosungen, doch er aß einfach weiter und scherzte mit Arrhidaios.
»Wo ist Glaukon?« fragte er plötzlich.
»Bei der Arbeit für seinen Herrn, wie es sich für einen guten Diener gehört«, erwiderte sie, als müßte sie sich gegen eine Anschuldigung rechtfertigen. Sie liebte Philipp wie sonst niemanden, aber ihr Gatte war der Maßstab, was männliche Tugenden betraf – wenn ein Prinz nicht so werden konnte wie der königliche Haushofmeister, dann war es schlecht um den Prinzen bestellt. »Vor einer Stunde hat ein Page ihn abgeholt. Er wird dir bestimmt alles erzählen, wenn er zurückkommt.«
»Bestimmt.«
Philipp grinste Arrhidaios an, brach ein Brot entzwei und zuckte mit den Achseln. Fast alles, was er vom Leben am Hof seines Vaters wußte, hatte er von Glaukon erfahren. Es war auch kein Thema, das ihn besonders interessierte, denn die einzige Staatskunst, für die sich ein Junge seines Alters – oder zumindest der Junge, der Prinz Philipp von Makedonien war – wirklich begeistern konnte, war der Krieg, und in den letzten Jahren der Herrschaft seines Vaters hatte das Land in Frieden gelebt.
Trotzdem und fast gegen seinen Willen verschlang er alles, was er darüber hörte, den Küchenklatsch, die Berichte über Intrigen und Rivalitäten, alles, was Glaukon meinte, ihm erzählen zu können, und es gab nur wenige Geheimnisse, die dem Haushofmeister des Königs nicht zu Ohren kamen. Die Folge war, daß Philipp die Männer und Frauen in der Umgebung des Königs nicht so sah, wie sie sich selbst sahen, sondern so, wie sie einem intelligenten Diener erschienen. Er war nicht zynisch, denn Zynismus setzt voraus, daß man etwas Besseres erwartet, und Philipp erwartete nichts. Es war einfach nur so, daß die Herrscher dieser Erde ihm nicht gar so großartig vorkamen.
Einen Augenblick später ging die Tür auf, und Glaukon trat herein. Als sein Blick auf Philipp fiel, runzelte er die Stirn, mit einem Ausdruck mitleidigen Bedauerns, so wie er damals die Stirn gerunzelt hatte, als er den jüngsten Prinzen von Makedonien beim Äpfelstehlen in Alkmenes Speisekammer ertappt hatte.
»Man ruft nach dir«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Und nach dir ebenfalls, Arrhidaios. Der König, euer Vater, stirbt.«
Philipp trafen diese Worte, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt: »Der König, euer Vater, stirbt.« Doch es war eine Empfindung, die ausschließlich von der Überraschung herrührte, denn persönlich betroffen fühlte er sich nicht. Alle guten Makedonier liebten ihren König,
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