Der Maler Gottes
dem Versprechen auf Erlösung. Er muss Jesus jetzt gegenübertreten, muss ihm ins Gesicht schauen, sich seiner versichern. Denn es darf nicht wahr sein, was nicht wahr sein soll. Jesus darf die Welt und ihn, den Maler und Bildschnitzer Matthias Grünewald, nicht verlassen haben.
Jeder Schritt kostet unendlich viel Kraft. Immer schwerer wird jeder neue Tritt, die Schuhe hängen wie Blei an den Füßen, Schlamm klebt in dicken Klumpen an den Beinkleidern, Nässe kriecht an ihm hoch. Dazu der Bluthusten. Die Brust krampft sich zusammen, die Anfälle kommen in immer kürzeren Abständen, lassen den Maler sich krümmen. Zweimal schon ist er in die Knie gesunken, beide Hände fest auf den Brustkorb gepresst, würgend, keuchend, mit pfeifenden, schmerzenden Lungen nach Atem ringend. Sein Mund fühlt sich staubtrocken an, die Lippen sind aufgerissen und wund. Er hat Durst, hätte gern Wasser gehabt, einen Schluck Wasser nur, um die Lippen zu benetzen, den Blutgeschmack wegzuspülen.
Endlich ist der Maler an dem kleinen Weiher angelangt, der zwischen ihm und der Kirche liegt. Der Weg führt in einem Bogen um den Weiher herum, doch Matthias Grünewald fehlt es an Kraft für die längere Strecke durch Schlamm und Matsch. Noch liegt Eis auf dem Weiher, scheint der kürzeste Weg zur Kirche zu sein. Gestern ist die gefrorene Schicht armdick gewesen, hat Fuhrwerke ausgehalten. Er hat es mit eigenen Augen gesehen. Taub für das Klirren und Knirschen unter ihm, läuft er auf das Eis. Blind für die Pfützen auf der gefrorenen Fläche, in denen sich nun die ersten Sonnenstrahlen spiegeln, geht er Schritt für Schritt weiter auf den Weiher hinaus. Zehn Meter ist er schon vom Ufer entfernt, zehn Meter der Kirche, der Klarheit, Unmissverständlichkeit, Bestimmtheit näher. Dreißig Meter noch von der Rettung, der Erlösung entfernt.
Als die klirrende, spiegelnde Eisfläche unter ihm bricht, streckt Matthias Grünewald den Arm Halt suchend nach der Kirche aus. Die Hand greift ins Leere. Die schweren Kleider, die rasch mit Wasser gefüllten Stiefel ziehen ihn tief und tiefer in das kalte Nass hinab. Noch könnte er nach dem Eisrand greifen. Noch könnte er um Hilfe rufen, schreien. Vielleicht würde ihn jemand hören. Vielleicht würde ihm jemand helfen. Vielleicht würde er sich sogar selbst retten können.
Doch Matthias Grünewald ruft nicht, schreit nicht, greift nicht mit beiden Händen nach dem Eisrand. Matthias Grünewald, Maler und Bildschnitzer aus Grünberg-Neustadt, Schöpfer des Isenheimer Altars, Freund Tilman Riemenschneiders und Jörg Ratgebs, ehemaliger Hofmaler des Erzbischofs von Mainz, jetzt in den Diensten derer von Erbach stehend, Matthias Grünewald rührt sich nicht, bleibt stumm. Er lässt sich einfach sinken, tief und tiefer in das eiskalte Wasser hinein. Noch immer streckt er den Arm nach der Kirche aus, geht ganz langsam unter. Noch könnte er den Eisrand packen. Nur ein Augenblick bleibt ihm dafür. Doch der Maler lässt auch die letzte Chance ungenutzt verstreichen, versinkt tiefer im Weiher, den Arm nach oben gestreckt, mit der Hand ins Leere greifend. Mein Gott, hast du mich doch verlassen?
Das Wasser schwappt ihm in den Mund, dringt in die Augen. Er sieht nicht mehr den Priester aus der Kirche kommen, auf das Eis blicken, aufgeregt rufen. Er hört nicht mehr die Leute, die der Priester herbeigeschrien hat, sieht nicht die Stangen, die sie heranschaffen, auf den Weiher schieben, näher und näher heran an das Loch, in dem er unaufhaltsam versinkt, den Arm noch immer nach oben gestreckt, mit dem Finger auf die Kirche zeigend. Auch sein Kopf ist nun verschwunden, doch der Arm, der Arm ist noch sekundenlang zu sehen, ehe auch er im Wasser versinkt.
Aus der Ferne kommen die Kinder, angelockt von der Menschenansammlung am Weiher vor der Kirche, angelaufen. Sie ahnen nicht, was vorgefallen ist, singen unbekümmert den Vers, mit dem sie das Tauwetter, den Vorboten des nahenden Frühlings, die Hoffnung auf Erneuerung, auf Wachsen und Werden, den Matthias-Tag begrüßen. »Matheis bricht’s Eis«, heißt es in einem Lied.
N ACHBEMERKUNG
Auf eine Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur habe ich verzichtet, da ich in den Jahren, in denen ich mich mit dem Leben des Matthias Grünewald beschäftige, so viele Bücher, Aufsätze und Artikel gelesen habe, dass die Aufzählung allein ein eigenes Buch ergeben würde.
Ich möchte mich bei all denen bedanken, die mich bei diesem Roman unterstützt haben:
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