Der Maler Gottes
1. K APITEL
Gestern, bei Einbruch der Matthiasnacht, der Nacht der Orakel, hatte die Hebamme Efeublätter in eine Schüssel mit Wasser gelegt. Jetzt, am frühen Morgen, lange vor der Dämmerung, schwimmen die meisten der Blätter noch immer unberührt auf der Wasseroberfläche. Doch zwei sind durchweicht, halb versunken, mit kraftlosen, welligen Blatträndern, die sich wie im Schmerz krümmen. Jeder weiß, was das zu bedeuten hat: Krankheit und Leid. Der Maler und Bildschnitzer Hans steht untätig in seiner Werkstatt und lauscht auf die Geräusche aus dem oberen Stockwerk des Hauses.
Viel hört er nicht. Nur die schnellen Schritte der Hebamme oder der Magd, das Knarren des Gebärstuhles und manchmal ein Stöhnen.
Hans schließt die Augen, faltet die Hände und betet. Zuerst betet er das Ave Maria, fügt einige Zeilen des Rosenkranzes hinzu, doch dann fließen ihm die Worte direkt aus dem Herzen in den Mund.
»Heilige Mutter Gottes, steh meiner Frau Roswitha und dem Kind, das jetzt kommen soll, bei. Du weißt, dass wir schon zwei Kinder verloren haben. Vor drei Jahren starb Georg kurz nach der Geburt. Die Hebamme hat ihn nottaufen müssen. Roswitha ist damals nur knapp mit dem Leben davongekommen. Im letzten Winter ist uns Susanne gestorben. Gerade ein Jahr alt war sie, als sie plötzlich am Morgen nicht mehr aufwachte. Nur Johannes, der Älteste, ist uns geblieben. Und nun die beiden durchweichten Efeublätter. Maria, Mutter Gottes, halt deine Hand über uns und bewahr uns vor Krankheit und Leid.« Von oben dringt ein Schrei bis in die Werkstatt hinunter. Gleich darauf hört Hans die Hebamme rufen: »Schnell, hol heißes Wasser, bring Tücher und ruf nach dem Priester.«
Hans stürzt aus seiner Werkstatt, hält die Magd, die in die Küche nach dem Wasser eilt, am Arm fest. »Was ist los? Wozu der Priester?«
»Das Kind! Ganz blau ist es und hatte einen Strick um den Hals, als es kam. Einen Strick wie ein Gehängter! Das Orakel hat Recht!« Die Magd bekreuzigt sich. Ihre Augen sind vor Entsetzen weit aufgerissen. Die durchweichten Efeublätter! Ein Strick um den Hals wie ein Gehängter! Hans lässt sich auf einen Schemel fallen und ringt die Hände. Warum hat sie damals nicht auf mich gehört?, denkt er. Warum hat Roswitha unbedingt den Gehängten sehen müssen? Er erinnert sich noch genau an diesen Tag im Spätherbst des letzten Jahres, als die Nachbarin kam und von dem Mönch erzählte, der sich selbst aufgehängt hatte an einem Baum nahe dem Kloster. Eigenartig und verschlossen sei er schon immer gewesen, dieser Mönch, den die Antoniter Cyriakus nannten. Ausgerechnet nach dem Nothelfer Cyriakus, dem Patron gegen die Besessenheit. Er selbst soll besessen gewesen sein, hatten die Leute erzählt. Tagelang sei er allein im Wald umhergestreift mit irrem Blick. Die Schwermut soll er gehabt haben, dieser Cyriakus. Und zu niemandem ein Wort gesprochen. Am Schluss hat er sich aufgehängt. Gesündigt hat er damit gegen Gott. So schwer gesündigt, dass er wohl nun in der Hölle schmoren wird bis zum Jüngsten Tag und darüber hinaus.
Hans hatte befürchtet, dass Roswitha sich an dem Gehängten versah, wenn sie ihn da an dem Baume erblickte. Aber sie hatte nicht gehört, war mit der Nachbarin und den anderen Weibern hingelaufen. Und alles Beten danach hatte nichts geholfen. Sie hatte sich an Cyriakus versehen und alle Eigenschaften des Gehängten auf das Kind in ihrem Leib übertragen. Der Strick um den Hals des Neugeborenen ist der Beweis.
Die Magd kommt zurück, trägt eine Schüssel in den Händen und Tücher über dem Arm.
Hans steht auf. »Lebt es?«, fragt er. »Das Neugeborene, lebt es? Und Roswitha?«
»Die Herrin lebt und auch das Neugeborene.«
»Hat der Strick keinen Schaden gebracht?« Die Magd schüttelt den Kopf, sieht nach oben und flüstert dann: »Als das Kind aus dem Mutterschoß kam, hat die Hebamme ihm den Strick geschwind über den Kopf gezogen. Aber ich habe ihn trotzdem gesehen. Der Junge trug ihn bei seiner Geburt um den Hals wie ein Gehängter. Mit eigenen Augen habe ich es gesehen. So wahr mir Gott helfe.«
»Ein Junge, sagst du?«
»Ja, Herr, ein Junge. Und kräftig dazu.«
»Kein Zeichen von Besessenheit?«
»Nein, Herr, noch ist nichts zu merken.« Oben wird eine Tür aufgerissen.
»Schwatz nicht, bring das Wasser, die Tücher, schnell!«, ruft die Hebamme. Sie beugt ihren Kopf nach vorn und sieht Hans am Fuße der Treppe.
»Habt Ihr schon nach dem Priester geschickt?«, fragt
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