Der Maler Gottes
Kopf es will. Trommelwirbelgleich klackt er gegen das Holz, dem Gesetz seines Meisters nicht gehorchend, und malt eigenwillig ein Bild, das lange schon da war, sich jetzt endlich Bahn bricht, heraus will aus seinem Versteck, heraus aus dem Herzen, aus der tiefsten Seele des Malers. Gegen den Verstand, gegen den Willen des Malers. Es ist seine Magdalenenklage. Sie zeigt den Gekreuzigten, den Herrn der Liebe, der, abgewandt vom Betrachter, abgewandt von Matthias Grünewald, die Welt verlassen hat. Nur in Magdalena, die ihm zu Füßen sitzt, beinahe herausfällt aus dem Bild, ist Jesus noch vorhanden. Nur ihr Gesicht, in das die Qual des Todes gezeichnet ist, spricht noch von ihm. Doch der Mund, leidvoll verzerrt, bleibt stumm. Die Hände, ineinander verschlungen, halten nur noch einander. Als der letzte Pinselstrich getan ist, der Maler sehenden Auges sein Bild betrachtet, erschrickt er. Er sieht die Farben: Schwarz, unzählige Brauntöne, Umbra, weiße Schattierungen bis ins Graue. Er weiß um die Symbolik -Trauer und Tod, Demut, Wahrheit und Reinheit. War es das, ist es das, was am Ende bleibt? Trauer und Tod? Demut? War das, ist das sein Leben? Und die Wahrheit verwaschen, verschwommen, fast nicht erkennbar. Auch sie von Trauer und Tod überschattet? Schwarz, Braun, Grau. Ist das wirklich alles, was nach 51 Jahren Leben bleibt? Wo sind Liebe, Glaube, Hoffnung, Leidenschaft?
Ein neuerlicher Hustenanfall unterbricht Grünewalds Gedanken. Er schmeckt Blut in seinem Mund. Blut. Das Symbol für die Farbe Rot. Die Farbe der Märtyrer und deren Blut. Die Farbe der Macht und der Herrschaft über Leben und Tod, aber auch die Farbe der Erfüllung, der Liebe und des Glaubens. Ja, auch Glaube, Erfüllung und Liebe hat es in seinem Leben gegeben. Zu wenig, viel zu wenig aber, als dass es für ein ganzes Leben gereicht hätte.
Der Maler nimmt den Pinsel und malt dem Gekreuzigten einen dünnen roten Blutfaden über das linke Schienbein bis hinab zum Fuß.
Ein wenig Rot zwischen all dem Schwarz und Braun und Grau. Ein wenig Hoffnung, Glaube und Liebe zwischen Trauer, Demut und Tod.
Matthias Grünewald legt den Pinsel zur Seite und betrachtet erneut sein Bild. Das Erschrecken bleibt. Jesus hat sich abgewandt, hat die Welt, die Menschen, hat ihn, Matthias Grünewald, verlassen, hatte ihn allein gelassen, mit dem Kreuz, das er selbst zu tragen hat, das ihm schwerer geworden ist von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. So schwer, dass der Maler es nun nicht mehr länger tragen kann.
Die Qualen, die ein Gekreuzigter zu erleiden hat – Matthias Grünewald kennt sie aus eigenem Erleben. Am eigenen Leib spürt er in dieser Nacht die Nagelwunden, die nur wenig bluten, aber umso schmerzhafter sind. Ist es der Fieberwahn, Begleiter des todbringenden Bluthustens, der ihm vorgaukelt, er werde gekreuzigt bei lebendigem Leibe? Jetzt, in dieser Kammer auf der Burg Fürstenau in Michelstadt-Steinbach? Jetzt, in der Nacht, die dem Tag des heiligen Matthias vorangeht und Tauwetter bringt?
Er sieht sich selbst auf dem Holzkreuz liegen, spürt die Nägel durch sein Fleisch dringen. Jeden einzelnen. Zuerst durch die Füße, dann durch die Handwurzeln. Er krümmt die Hände, verdreht die Füße, spreizt die Finger, die Zehen in tobendem Schmerz. Jetzt wird das Kreuz hochgezogen. Die Arme zum Zerreißen angespannt, die sich ins Fleisch bohrenden Nägel, das Reißen der Wundränder. Manchmal lassen die Zerrungen ein wenig nach, um dann beim Erlahmen der Muskeln umso schmerzhafter wieder zurückzukommen. Als würden alle Dämonen der Hölle an seinem Körper ziehen und ihre Zähne und Krallen in sein Fleisch schlagen.
Matthias Grünewald empfindet die Qual in aller Deutlichkeit und sieht sich gleichzeitig als Betrachter, als Zuschauer der eigenen Kreuzigung daneben stehen. Er sieht die Rötungen und Entzündungen der Rutenwunden, die durch die vorangegangene Geißelung entstanden sind, spürt jeden einzelnen Dorn der Spottkrone auf seiner Stirn und der Kopfhaut. Er spürt das Blut über sein Gesicht rinnen, das Fieber, hat namenlosen Durst, wird durch Myriaden von Fliegen gequält. Einen Schluck Wasser, nur einen einzigen, winzigen Schluck Wasser, um die aufgerissenen Lippen, die geschwollene Zunge zu benetzen. Ein Tropfen nur. Ein Tropfen Wasser um Christi willen.
Er hängt am Kreuz, zur Unbeweglichkeit verdammt, und fühlt die Überanstrengung seines Herzens. Die Arme hochgerissen, so dass das Blut nicht zirkulieren kann. Die Schmerzen der anfallartigen
Weitere Kostenlose Bücher