Der Mann aus London
den Koffer zurück … Ich helfe Ihnen zu fliehen …«
Er blickte zur Tür und sah ein Stückchen Meer, das so hell war wie der Himmel darüber, und gleichsam aufgehängt zwischen Himmel und Meer das braune und das blaue Segel.
»Monsieur Brown! … Ich flehe Sie an! … Geben Sie wenigstens zu, daß nicht ich angefangen habe … Ich wollte Ihnen nur etwas zu essen und zu trinken bringen …«
Er richtete sich auf den Knien auf, nahm die Henkelkanne vom Boot und fand plötzlich den Mut, den Körper auf den Rücken zu drehen.
Die Augen standen offen. An der Schläfe war eine Wunde, eher ein Loch, ein richtiges Loch wie in irgendeinem beliebigen Material.
»Monsieur Brown!«
Er öffnete die Kanne, legte sie dem Engländer an den Mund und wollte ihm den Schnaps einflößen. Es gluckerte, und der Schnaps ergoß sich über die zusammengepreßten Zähne, das Kinn, den Adamsapfel.
»Sie sind tot …«
Maloin betonte jede Silbe. Er sprach wie ein Mensch, der gerade aus dem Schlaf erwacht.
Er stand auf, wischte den Staub von den Knien und strich sich mit der Hand die Haare zurück. Er brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen. Seine Brust hob und senkte sich heftig. Er hatte ein leichtes Kratzen im Hals, vielleicht vom Schreien.
Er wußte nicht mehr, daß er geweint hatte, und wunderte sich, daß ihm die Augen brannten.
Er bückte sich nach der Henkelkanne, kam aber nicht auf den Gedanken, den restlichen Schnaps auszutrinken.
Es war eine schreckliche Ruhe, die über ihn gekommen war. Eine Ruhe, wie er sie noch nie gekannt hatte, eine Art völliger Leere. Er benahm sich wieder wie ein gewöhnlicher Mensch, aber er spürte genau, daß er nicht mehr ein Mensch wie alle anderen war. Er hatte eine unbekannte Grenze überschritten, ohne genau sagen zu können, in welcher Sekunde das geschehen war.
Er merkte, wie sich sein Gesicht nach und nach entspannte, die Muskeln sich entkrampften und die Haut wieder glatt wurde.
Und er begann die Hütte aufzuräumen! Niemand hätte ihm das abgenommen, daß er in einer solchen Situation anfing, Ordnung zu machen. Und doch war es so! Er brachte zuerst seine Kleider in Ordnung und räumte dann die Hütte auf. Während des Kampfes war Verschiedenes umgefallen, ohne daß er es gemerkt hatte, unter anderem der Stapel mit Körben.
Da waren nur noch Browns Augen … Er konnte sie nicht offenlassen. Maloin empfand keinen Widerwillen, als er die Lider berührte und die Augen zudrückte.
»So«, sagte er bloß.
Er steckte die Wurst und die Sardinenbüchsen wieder in die Tasche und warf noch einen letzten Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, daß nichts mehr zu tun war. Er wollte gerade gehen, als jemand rief:
»Tag, Louis!«
Er ging zum Ausgang und blieb unter der Tür stehen.
»Tag, Mathilde!«
»Willst du aufs Meer?«
»Mal sehen … Weiß noch nicht recht.«
Seine Stimme klang normal. Er stand in der Sonne und blinzelte. Mathilde, eine alte Frau, die ihre Krabben in der Stadt verkaufte, kam in etwa zwanzig Meter Entfernung vorüber. Sie hatte den Krabbenhaken dabei, es war der gleiche wie der in der Hütte. Sie hatte einen Korb auf dem Rücken und ging stark vornübergebeugt.
»Kriegen wir heute noch Frost?«
»Glaub schon …«
Er blieb noch unter der Tür stehen, nachdem sie vorbei war, vor sich das Meer und hinter sich den Toten. Die Luft war so kalt, daß es auf der Haut prickelte. Es herrschte Ostwind, und das Meer, der Himmel und die Steilküste glichen in ihren schillernden, regenbogenfarbenen Tönen dem Innern einer großen Muschel. Von weitem sah man die Männer auf dem blauen Segelboot das Netz heben und die Muscheln in einen Korb schütten.
Maloin steckte sich seine Pfeife an und beobachtete einen Augenblick den senkrecht aufsteigenden Rauch.
Er hatte nichts mehr zu tun. Von nun an würde er nie mehr etwas zu tun haben. Mit schmerzender Schulter, die Pfeife zwischen den Zähnen, blieb er stehen und gewährte sich noch einen Aufschub von einer Minute, von zwei …
»Bis ich meine Pfeife zu Ende geraucht habe«, nahm er sich vor.
Er wußte, daß eine Menge auf ihn zukommen würde. Aber er hatte immer noch Zeit genug zum Nachdenken. Es eilte nichts. Das alles ging nur ihn etwas an.
Eines Nachts, als er noch ein gewöhnlicher Mensch gewesen war – langsam und schwerfällig, mit Gedankenfetzen, die sich im Kopf aneinanderreihten –, hatte er in seinem Glaskasten gesessen und sich vorgestellt, wie es wäre, wenn er Brown in der Hütte umbrächte.
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