Der Mann aus London
Wenn ihn jemand geschüttelt hätte und er plötzlich in seinem Bett aufgewacht wäre – es hätte ihn nicht weiter verwundert.
Statt den Weg die Steilküste hinaufzusteigen, lief er am unteren Rand des Felsens entlang. Ab und zu sah er hinauf, aber es war keine Uniform zu entdecken. Seine Hütte war etwas weiter vorn, hinter der ersten Höhle, und auf dem Weg dorthin mußte er zwischen dicken Steinen und herabgefallenen Felsbrocken hindurch. Er hatte die Lebensmittel einfach in die Taschen seines Jacketts gesteckt, und es tat ihm um die Pastete leid, die inzwischen bestimmt zu Brei zerdrückt war.
Kurz vor der Hütte setzte er sich auf einen Stein. Er wurde plötzlich von Rührung ergriffen über sein eigenes Schicksal, das seiner Frau, seiner Tochter und sogar das von Ernest. Ganz nahe, fast direkt über ihm, lag sein Haus, von hier aus unsichtbar und wie ein Baukastenhäuschen auf den steilen Fels gesetzt. Der Kamin rauchte sicher. Ernest saß wohl schon beim Frühstück und machte sich gleich auf den Weg zur Schule. Henriette hatte bestimmt ausschlafen dürfen, schließlich hatte sie selten genug die Möglichkeit dazu.
Morgens hatte das Haus einen intimen Geruch: eine Mischung aus Schlafzimmergeruch, Kaffeeduft und ein wenig Landluft. Wenn er am Morgen nach Hause kam, wärmte er zuerst die Hände über dem Feuer und wechselte dann seine schweren Schuhe gegen die Pantoffeln, die bereits auf der Ofenplatte vorgewärmt wurden.
Der ganze übrige Tag gehörte ihm. Zuerst zum Schlafen. Meist war es ein oberflächlicher Schlaf, dessen er sich bewußt war und in den die Geräusche aus dem Haus und von der Straße eindrangen. Hinterher dann konnte er tun, was er wollte: sich an seinem Angelgerät zu schaffen machen, sein Boot neu anstreichen, am Radio herumhantieren oder etwa einen Wecker auseinandernehmen.
Er holte die Wurst aus der Tasche und schaute sie verwundert an, als ob er vergessen hätte, daß er sie selbst gekauft hatte. Das Meer war glatt, mit einem angedeuteten weißen Saum an der Küste. Der Wind wehte vom Land her, und weiter draußen, zum offenen Meer hin, hatten sich kleine Schaumkronen gebildet. Maloin erkannte mehrere Boote, die langsam ihre mit Jakobsmuscheln gefüllten Netze hinter sich herzogen. Dabei fiel ihm ein, daß sie diesen Winter noch gar keine Muscheln gegessen hatten.
Er hatte sich genug Aufschub gegönnt. Schließlich konnte er nicht den ganzen Tag auf diesem Stein sitzen bleiben.
Aber er war jetzt weniger denn je von der Richtigkeit oder der Notwendigkeit seines Vorhabens überzeugt. Er war nahe daran, nach Hause zurückzugehen und den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Warum sollte das jetzt nicht mehr möglich sein?
Aber dann fiel ihm sein Schwager ein, der schon immer eine Herausforderung für ihn gewesen war, und das brachte die Entscheidung. Er steckte die Wurst wieder in die Tasche und stand auf, schwerfällig, wie einer, der Muskelkater gehabt hat.
9
Möglich, daß ihn jemand mit dem Fernglas beobachtete. Bei Fischern, die in Küstennähe mit dem Schleppnetz unterwegs sind, kommt das relativ häufig vor. Sie sehen einen kleinen schwarzen Punkt auf der Steilküste oben oder unten, und sie greifen zum Glas:
»Aha, Maloin. Er holt Krabben«, konstatieren sie und beobachten weiter die Küste, bis es Zeit ist, das Netz zu heben.
In dem perlmuttenen Grau des anbrechenden Tages waren drei Fischerboote zu erkennen: zwei mit braunem und eines mit blauem Segel.
Maloin ging auf die Hütte zu, mit der äußeren Ruhe, die das Lampenfieber begleitet. Und Maloin hatte tatsächlich eine Art Lampenfieber. Wenn er zum Chef seines Bezirks gerufen oder aufgefordert worden wäre, in einer Versammlung das Wort zu ergreifen, hätte es nicht schlimmer sein können.
In solchen Augenblicken sind alle Sinne geschärft: Man sieht alles, man hört alles, man spaltet sich. Maloin sah sich, gewissermaßen wie in einem Spiegel, den großen Schlüssel in das Schloß stecken.
Er hätte allerdings die Tür einen Spalt breit öffnen, die Lebensmittel ins Innere der Hütte werfen, wieder abschließen und weggehen können. Er hätte auch weggehen und die Tür offenlassen können. Er hatte sich inzwischen so viele Möglichkeiten zurechtgelegt, daß sie ihm alle gleichgültig geworden waren.
Ob er nun dies tat oder jenes, war egal. Es ging ja nur darum, daß überhaupt etwas getan wurde. Was, das war jetzt bedeutungslos. Er wußte ohnehin, daß es zu spät war, sich heimlich zu verdrücken.
Der
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