Der Mann, der den Regen träumt
riesiger Sandkasten. Es begann zu dämmern. Aus den Lautsprechern drang knisternd eine Durchsage des Piloten: Sie würden nun zur Landung ansetzen.
Der Fußboden im Flughafen war so blitzsauber, dass ihr Spiegelbild sie auf Schritt und Tritt, Sohle an Sohle, über die glänzenden Fliesen begleitete. In New York suchte sie für gewöhnlich auf dem Weg zur Arbeit in Autofenstern und den Eckspiegeln der U-Bahnsteige nach ihrem Spiegelbild. Sie stellte sich gern vor, auf diese Weise einen Blick auf eine andere Elsa erhaschen zu können, die in einer Welt hinter den Spiegeln lebte, wo das Leben nicht unerträglich geworden war. Jetzt, dachte sie, während ihre Koffer auf das Gepäckband rutschten, bin ich eine von ihnen. Eine neue Elsa. Einen Moment lang war sie wie erstarrt vor Freude. Sie umklammerte die Griffe ihrer Koffer so fest, dass ihre Fingerknöchel knackten.
Als sie die Ankunftshalle erreichte, spürte sie die ersten Anzeichen des Jetlags. Sie starrte auf die Reihe gelangweilter Taxifahrer und fragte sich, wie um alles in der Welt sie Mr Olivier finden sollte. Zu ihrer Erleichterung erspähte sie kurz darauf einen Mann, der ein handgeschriebenes Schild hochhielt, auf dem ihr Name stand. Er hatte sich zu wenig Platz zum Schreiben gelassen, sodass die letzten drei Buchstaben zusammengequetscht waren wie eine römische Zahl. Er war ein großgewachsener Schwarzer mit unsicher gekrümmten Schultern und trug denselben scheußlich buntgemusterten Pullover wie auf dem Foto, das er ihr gemailt hatte, damit sie ihn erkannte. Sein Haar, das sich in winzigen Löckchen auf seinem Kopf kringelte, war von Grau durchsetzt.
Als er sah, dass sie sein Schild las, grinste er zufrieden und rief mit einer Stimme, die, obwohl er sie erhoben hatte, ruhig klang: »Elsa Beletti? Elsa Beletti, richtig?«
»Mr Olivier?«
»Nenn mich Kenneth.«
Kaum vorstellbar, dass sie diesen Mann gerade mal vor zwei Monaten kennengelernt hatte, in einem Internetcafé in Brooklyn, während die helle Sonne, die auf ihren Computerbildschirm fiel, das Wort, das sie gerade in die Suchmaschine eingegeben hatte, beinahe unleserlich machte: Thunderstown.
Die Suchmaschine lieferte einen einzigen Treffer – eine Anzeige, in der Zimmer mit Frühstück angeboten wurden. Ich suche nach einer Unterkunft in Thunderstown, hatte sie in ihrer Mail geschrieben, und würde gern eine ganze Weile bleiben.
Mr Olivier hatte ihr innerhalb von Minuten geantwortet. In der folgenden Stunde tauschten sie neun oder zehn E-Mails aus. Er erzählte, dass er mit Ende zwanzig, also etwa in ihrem Alter, von St. Lucia nach Thunderstown gezogen war. Er fragte nicht, warum in aller Welt sie New York gegen die tiefste Provinz, ein vergessenes und halb ausgestorbenes Fleckchen, viele Meilen von jeder anderen Stadt entfernt, eintauschen wolle. Sie dankte es ihm, indem sie nicht nachforschte, warum er es der Karibik vorgezogen hatte. Sie hatte das Gefühl, zwischen den Zeilen seiner Antworten lesen zu können, genau wie er es bei ihr tat, und dass sein Angebot, den Aufenthalt so lange auszudehnen, wie sie wollte, ihnen beiden entgegenkommen würde.
Nun, in der Ankunftshalle, begrüßte er sie, indem er ihre ausgestreckte Hand mit seinen beiden umschloss. Sie fühlten sich warm und weich an. Am liebsten hätte Elsa die Augen geschlossen, sich an seine Schulter gelehnt und wäre auf der Stelle eingeschlummert.
»Da bin ich«, verkündete sie erschöpft und erleichtert.
»Nein«, erwiderte er lachend. »Noch nicht. Wir haben noch eine ziemlich lange Fahrt vor uns.«
Sie nickte. Ja. Ihre Gedanken begannen zu zerfasern.
Behutsam legte er seine Hände um die Griffe ihrer Koffer und trug diese, als sie sich auf den Weg in ein dunkles Parkhaus machten. Die Stille dort war gespenstisch nach der überlaufenen Flughafenhalle. Kenneth quetschte sich hinter das Lenkrad eines winzigen Autos. Elsa ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und atmete tief ein. Im Inneren des Wagens roch es angenehm nach Wolle, und als sie den Kopf zurücklehnte, fühlte sie einen flauschigen Sitzbezug in ihrem Nacken.
»Ziegenfell«, erklärte er lächelnd. »Aus Thunderstown.«
Sie schmiegte ihre Wange in die Wolle, die sich weich und plüschig auf ihrer Haut anfühlte.
Er ließ den Motor an und steuerte den Wagen langsam vom Flughafengelände in den hektischen Stadtverkehr, zwischen Reihen von Straßenlaternen, hell erleuchteten Bars und grellen Reklametafeln hindurch. Nach und nach ließen sie all diese Dinge
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