Der Mann, der den Regen träumt
das Schild herausgeschlagen worden war – ein leerer Pfeil ins Nirgendwo.
Diesem Schild waren sie gefolgt.
»Eine Stunde noch«, sagte Kenneth.
Eine Antwort hätte sie mehr Mühe gekostet, als hundertmal aufzuwachen. Sie döste wieder ein.
* * *
Als sie wieder zu sich kam, stand das Auto still und Kenneth hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet.
»Was ist los?«, fragte Elsa und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Er deutete an ihr vorbei aus dem Fenster.
Sie wandte den Kopf und setzte sich kerzengerade auf, mit einem Mal hellwach. Sie sah keine Berge mehr am Horizont. Über ihnen leuchteten Sterne, aber nur am Zenit der Nacht. Sie sah keine Berge mehr am Horizont, weil sie sich mittendrin befand.
Durch Risse in der Wolkendecke glitzerte das Mondlicht wie fallender Schnee und erhellte die Berggipfel dort, wo es auf ihre kahlen, zerfurchten Schädel traf. Elsa spürte die Anziehungskraft der Berge in ihren Knochen, jeder einzelne von ihnen schien ihre Gliedmaßen auf sich ausrichten zu wollen. Doch es waren nicht die Berge, die Kenneth ihr hatte zeigen wollen. Vor ihnen fiel die Straße zwischen den Gipfeln abrupt in ein tiefes Tal ab, so steil, dass Elsa das Gefühl hatte, hoch in der Luft zu schweben.
Am Grund dieses natürlichen Kessels leuchteten die Lichter von Thunderstown.
Das erste Mal hatte sie diese Lichter vor ein paar Jahren aus dem Fenster eines Flugzeugs gesehen, einer ganz ähnlichen Maschine wie der, aus der sie vor ein paar Stunden gestiegen war. Es war ein Anschlussflug gewesen und sie hatte neben Peter gesessen, auf dem Weg in einen Urlaub, der sich als ziemlicher Reinfall herausgestellt hatte. Peter und die anderen Passagiere hatten geschlafen, während Elsa ihren Kopf an die Fensterscheibe gelehnt und beobachtet hatte, wie die nächtliche Welt unter ihr dahinzog. Und dann hatte sie Thunderstown erblickt.
Vom schwarzen Himmel aus betrachtet, formten die glimmenden Lichter von Thunderstown dasselbe Muster wie ein Hurrikan auf einem Satellitenbild: ein Geflecht verschlungener Spiralen, das in die Nacht hinausfunkelte. Im Herzen der Stadt lag ein Punkt vollkommener Finsternis – ein rätselhaftes Nichts wie das Auge eines Hurrikans.
Sie hatte Peter beinahe zur Verzweiflung getrieben, weil sie die ersten Tage ihres Urlaubs mit nichts anderem verbracht hatte als damit, ihre Flugroute zurückzuverfolgen, bis sie schließlich auf den Namen des Städtchens gestoßen war, den sie wieder und wieder vor sich hin murmelte wie ein Losungswort, das ihr Zutritt zu einer magischen Höhle gewähren würde.
Kenneth ließ den Motor wieder an und sie fuhren bergab.
Als sie sich der kleinen Stadt näherten, veränderte sich langsam die Perspektive und verwandelte die schimmernde Spirale in einen verschwommenen Streifen aus Gebäuden und Straßenlaternen, die nach und nach in der Ferne versanken. Plötzlich beschrieb die Straße einen Bogen um einen hohen Felsbrocken herum, der unvermittelt vor ihnen aufragte. Der graue Koloss verdeckte einen Moment lang die Sicht auf die Stadt und die Lichtkegel des Autos bohrten sich in den Schlund der Nacht.
Dort draußen in der Dunkelheit war etwas. Elsa sah es und stieß einen erschrockenen Schrei aus.
Die Scheinwerfer ließen ein Paar Tieraugen aufleuchten. Fell und Zähne und einen Schwanz. Im nächsten Moment duckte sich das Geschöpf, was auch immer es gewesen sein mochte, aus dem Lichtstrahl und war verschwunden.
»Keine Angst«, beschwichtigte sie Kenneth.
»War das ein Wolf?«
Er lachte. »Wahrscheinlich nur ein Hund.«
Als sie den Felsbrocken umrundet hatten, rückten die Gebäude näher und Elsa konnte einzelne Fenster und Türen ausmachen.
»Da sind wir«, sagte Kenneth. »Zu Hause.« Den letzten beiden Wörtern verlieh er bewusst Nachdruck. Sie waren Einladung und feierliche Erklärung zugleich. Elsa war noch nie zuvor in Thunderstown gewesen, doch in diesem Moment – noch immer kerzengerade im Auto sitzend, hellwach und wie elektrisiert vor Aufregung – hatte sie tatsächlich das Gefühl, nach Hause zu kommen.
In der ersten Straße, in die sie einbogen, waren viele Häuser verbarrikadiert. Es handelte sich um schieferverkleidete Reihenhäuser mit morschen Türen und verrammelten Fenstern.
»Heutzutage haben wir hier mehr Häuser«, erklärte Kenneth, »als Leute, die drin wohnen wollen. Wir können sie nicht alle instand halten, schon gar nicht, wenn das schlechte Wetter kommt. In dieser Straße wohnt niemand mehr. Aber keine Sorge, Thunderstown
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