1. Von Zweifeln geplagt
Was weiß ich eigentlich wirklich über Daniel? Wir kennen uns gerade mal seit ein paar Tagen und trotzdem habe ich einen ganzen Ozean überquert, um ihn wiederzusehen. Obwohl ich ihm vor dieser letzten Woche noch nie begegnet bin, hat er mich reich mit Schmuck beschenkt. Wir leben nicht in derselben Welt. Ich fürchte den Verhaltenskodex der Kreise, in denen er sich bewegt. Über seine Vergangenheit weiß ich nichts.
Natürlich ahne ich, dass er schon mit anderen Frauen zu tun hatte. Ich dachte sogar, er sei verheiratet, bis ich erfahren habe, dass Camille in Wirklichkeit sein Vater ist. Wie lange scheint das schon her zu sein! Seitdem sind so viele Dinge geschehen. Doch seit ich das Bild dieser Frau auf dem Klavier gesehen habe, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Wer ist sie? Eine Ex-Freundin? Warum bewahrt Daniel ihr Foto an einer so gut sichtbaren Stelle im Wohnzimmer auf? Dieses Foto ist so ziemlich der einzige persönliche Gegenstand, der diese Luxuswohnung ziert.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß so gut wie nichts über Daniels Leben, hatte aber bereits Gelegenheit, die vielfältigen Facetten seines Charakters kennenzulernen: Als autoritärer Geschäftsmann einerseits und feuriger, leidenschaftlicher Liebhaber andererseits kann er charmant sein und dann von einer Minute auf die andere fuchsteufelswild werden. Ich möchte nicht seinen Zorn auf mich ziehen, aber ... bei der Vorstellung, dass er mit einer anderen zusammen sein könnte, verspüre ich einen Stich in der Magengegend.
Die Beziehung zwischen Daniel und mir ist im wörtlichen Sinne ein hautnahes Erlebnis, eine Art sinnliche Alchemie. Allein seine Nähe reicht aus, um sofort ein heftiges Verlangen bei mir auszulösen. Ich glaube, ich bin mir fast sicher, na ja, ich denke, dass er dasselbe für mich empfindet. Zumindest hoffe ich es. Aber ich weiß zu wenig über Sexuelles, um mir wirklich eine Meinung bilden zu können. Mit meinen zwanzig Jahren musste ich erst Daniel kennenlernen, um endlich die Wonne sexueller Lust zu entdecken. Aber für ihn ist unsere Geschichte vielleicht einfach nur schrecklich banal?
Wie jedes Mal, wenn ich im Zweifel bin, muss ich Sarah nach ihrer Meinung fragen. Meine beste Freundin hat bei Weitem mehr Erfahrung mit Männern als ich. Auf diesem Gebiet ist sie eine richtige furchtlose Tigerin. Daniel ist noch unter der Dusche. Das Bild seines attraktiven, von heißem Wasser triefenden Körpers schießt mir durch den Kopf. Ich könnte zu ihm hineingehen. Diese Vorstellung bringt meinen Unterleib zum Glühen. Aber ich verjage diesen Gedanken: Ich muss wissen, was Sarah von der Lage hält. Ich packe mein Mobiltelefon und wähle ihre Nummer. Sarah hat ihre Mailbox eingeschaltet. Ich weiß, dass sie ihre E-Mails auf dem Smartphone empfängt. Also setze ich mich an Daniels Computer und logge mich in meinen Mailaccount ein.
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Von: Julia
[email protected] An: Sarah
[email protected] Gesendet: Montag, 30. Juli 2012 18:43 Uhr
Betreff: Das geheimnisvolle Foto
Hallo liebe Sarah,
ich habe versucht, Dich zu erreichen, aber Du bist nicht ans Handy gegangen. Wahrscheinlich liegst Du gerade in den Armen von Luca, was mich für Dich freut.
Ich schreibe Dir diese Mail von Daniels Wohnung in Paris aus. Wir haben dort eine fantastische Nacht verbracht, es war pure Erotik, Leidenschaft und perfekte Harmonie. Ich kann es kaum erwarten, Dir alles zu erzählen. Am Morgen ist Daniel zur Arbeit gegangen und ich habe mir seine „Nebenwohnung“ angesehen. Riesig, aber vor allem schrecklich unpersönlich. Völlig anders als der Landsitz, von dem ich Dir erzählt habe. Hier ist alles weiß, hübsch, aber vor allem zweckmäßig. Nun ja, das heißt, nicht alles.
Als ich mir die Örtlichkeiten angesehen habe, ist mir das Foto einer Frau aufgefallen, das groß im Wohnzimmer prangt. Dieses Bild hat mich angezogen wie ein Magnet. Sie ist schön, von derselben rassigen und erlesenen Schönheit wie alle Frauen in Daniels Umfeld. Feine Züge, ein leicht kantiges Gesicht, aber nicht hager, lange braune Haare, die ihr auf die Schultern fallen, und sehr blasse grüne Augen.
Als ich sie gesehen habe, hat es mir einen Stich ins Herz versetzt. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl, so als müsste ich vor dieser Frau auf der Hut sein. Hinten auf dem Foto standen handgeschrieben ein paar Worte:
Für den Mann, der ... Haydée
Sie hat einfach alles: Sie ist nicht nur mondän, sie hat auch noch einen