Der Mann, der kein Mörder war
vorläufig am Tatort festgestellte Todesursache auf eine extreme Gewalteskalation mit unzähligen Messerstichen in Herz und Lunge hindeutete, machte die Sache dabei nicht besser. Doch das war es nicht, was Torkel am meisten beunruhigte. Es war der kurze letzte Satz des Berichts, den der Arzt noch am Fundort der Leiche verfasst hatte:
«Die vorläufigen Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass das Herz des Toten zu großen Teilen fehlt.»
Torkel blickte durch das Fenster auf die Bäume, die draußen vorbeirauschten. Jemand hatte das Herz entnommen. Torkel hoffte, dass der Junge weder Heavy Metal gehört hatte, noch leidenschaftlicher World-of-Warcraft-Spieler gewesen war. Denn sonst würde die Presse mal wieder mit den aberwitzigsten Spekulationen aufwarten.
Vanja sah von ihren Unterlagen auf. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie gerade denselben Satz gelesen.
«Vielleicht wäre es eine gute Idee, Ursula auch gleich hinzuzuziehen», sagte sie. Wie immer hatte sie seine Gedanken gelesen. Torkel nickte kurz. Billy warf einen kurzen Blick nach hinten.
«Haben wir eine Adresse?»
Torkel reichte sie ihm, und Billy tippte sie behände in das Navigationsgerät ein. Es gefiel Torkel nicht, dass Billy sich beim Fahren mit anderen Dingen beschäftigte, aber immerhin drosselte er dabei das Tempo ein wenig.
«Noch eine halbe Stunde.» Billy drückte das Gaspedal erneut durch, und der große Van reagierte sofort. «Vielleicht schaffen wir es auch in zwanzig Minuten, je nach Verkehrslage.»
«Eine halbe Stunde ist völlig in Ordnung. Ich finde es immer so unangenehm, wenn wir die Schallmauer durchbrechen.»
Billy wusste genau, was Torkel von seiner Fahrweise hielt, aber er lachte nur über seinen Chef, den er im Rückspiegel sah. Gute Straße, gutes Auto, guter Fahrer, warum sollte man das nicht maximal ausnutzen?
Billy gab noch mehr Gas.
Torkel holte sein Handy hervor und wählte Ursulas Nummer.
D er Zug verließ den Stockholmer Hauptbahnhof um 16:07 Uhr. Sebastian setzte sich in die erste Klasse. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, als sie aus der Stadt rollten.
Früher hatte er in Zügen nie wach bleiben können. Jetzt fand er keine Ruhe, obwohl er spürte, wie dringend sein Körper eine Stunde Schlaf brauchte.
Also holte er den Brief vom Bestattungsinstitut hervor, öffnete ihn und begann zu lesen. Er wusste bereits, was darin stand. Eine ehemalige Kollegin seiner Mutter hatte ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie gestorben sei. Still und würdevoll, sagte sie. Still und würdevoll – das Leben seiner Mutter auf den Punkt gebracht. Diese Beschreibung hatte nichts Positives, jedenfalls nicht, wenn man Sebastian Bergman hieß. Nein, für ihn war das Leben von der ersten bis zur letzten Stunde ein Kampf. Die Stillen und Würdevollen hatten bei ihm keinen Platz. Die Sterbenslangweiligen, so nannte er sie. Jene Menschen, die immer mit einem Bein im Grab standen. Doch ganz so überzeugt wie früher war er nicht mehr. Wie hätte sein Leben sich wohl entwickelt, wenn er still und würdevoll gelebt hätte?
Vermutlich besser. Weniger schmerzvoll.
Das versuchte zumindest Stefan Hammarström, Sebastians Therapeut, ihm einzureden. Bei einer der letzten Sitzungen hatten sie genau darüber diskutiert, nachdem Sebastian ihm vom Tod seiner Mutter erzählt hatte.
«Wie gefährlich ist es denn, so zu sein wie andere?», hatte Stefan gefragt, als Sebastian ihm klargemacht hatte, was er von «still und würdevoll» hielt.
«Lebensgefährlich!», hatte Sebastian geantwortet. «Anscheinend sogar tödlich.»
Anschließend hatten sie fast eine ganze Stunde damit zugebracht, die genetische Veranlagung des Menschen in seinem Verhältnis zur Gefahr zu diskutieren. Eines von Sebastians Lieblingsthemen.
Er hatte gelernt, wie wichtig die Gefahr als Triebkraft sein konnte, teils aus eigener Erfahrung, teils durch seine Forschungen über Serienmörder. Jetzt erklärte er seinem Therapeuten, dass ein Serienmörder nur von zwei Dingen wahrhaftig getrieben werde: der Phantasie und der Gefahr. Die Phantasie sei der schnurrende Motor, immer zugegen, wenn auch im Leerlauf.
Die meisten Menschen hatten Phantasien. Sexuelle, dunkle, brutale, in denen ständig das eigene Ego bestärkt wurde und mitunter Dinge oder Menschen vernichtet wurden, die im Weg standen. In der Phantasie war man übermächtig, doch nur die wenigsten lebten ihre Phantasien aus. Wer es tat, hatte den Schlüssel gefunden:
Die Gefahr.
Die Gefahr,
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