Der Mann, der kein Mörder war
D er Mann war kein Mörder.
Er redete es sich selbst ein, während er den toten Jungen den Abhang hinunterschleifte: Ich bin kein Mörder.
Mörder sind Kriminelle. Mörder sind schlechte Menschen. Die Finsternis hat ihre Seele verschlungen, sie haben die Schwärze umarmt und willkommen geheißen, dem Licht ihren Rücken zugewandt. Er war kein schlechter Mensch. Ganz und gar nicht.
Hatte er in letzter Zeit nicht sogar genau das Gegenteil bewiesen? Hatte er nicht zum Wohl anderer seine eigenen Gefühle, seinen eigenen Willen zurückgestellt und sich damit beinahe selbst Gewalt angetan? Die andere Wange hingehalten, das hatte er. War nicht die Tatsache, dass er hier, in dieser sumpfigen Senke mitten im Nirgendwo, mit einem toten Jungen stand, ein weiterer Beweis dafür, dass er das Richtige tun wollte? Es tun
musste
. Dass er nie wieder versagen durfte.
Der Mann blieb stehen und verschnaufte. Der Junge war nicht sonderlich groß, aber er war schwer. Trainiert. Viele Stunden im Fitnessstudio. Doch nun war es nicht mehr weit. Er packte das Hosenbein, das einmal weiß gewesen war, in der Dunkelheit jedoch fast schwarz aussah. Der Junge hatte so stark geblutet.
Ja, es war falsch, einen Menschen umzubringen. Fünftes Gebot. Du sollst nicht töten. Doch es gab Ausnahmen. An vielen Stellen forderte die Bibel sogar zum Töten auf, wenn es gerechtfertigt war. Es gab jene, die es verdient hatten. Aus falsch konnte richtig werden. Nichts war absolut.
Wenn das Motiv nicht egoistisch war. Wenn der Verlust eines Menschenlebens andere retten würde. Ihnen eine Chance gäbe, ein neues Leben schenkte. Dann konnte die Tat doch unmöglich schlecht sein? Wenn die Absicht gut war?
Als er das dunkle Gewässer erreicht hatte, blieb der Mann stehen. Die Regenfälle der letzten Tage hatten den Boden durchweicht, sodass der Tümpel, der sonst nur wenige Meter tief war, sich nun wie ein kleiner See über die gestrüppreiche Senke erstreckte.
Der Mann beugte sich vor und fasste den Jungen an den Schultern. Mühsam zog er den leblosen Körper in eine halb aufrechte Position hoch. Für einen Moment sah er dem Jungen direkt in die Augen. Was war sein letzter Gedanke gewesen? Hatte er überhaupt Zeit gehabt, etwas zu denken? Hatte er begriffen, dass er sterben würde? Und sich gefragt, warum? Hatte er an all das gedacht, wofür er in seinem kurzen Leben keine Zeit mehr gehabt hatte? Oder an das, was er geschafft hatte?
Es spielte keine Rolle.
Warum quälte er sich dann so?
Er hatte keine Wahl.
Er durfte nicht versagen, nicht noch einmal.
Dennoch zögerte er. Nein, sie würden es nicht verstehen. Ihm nicht verzeihen. Nicht wie er die andere Wange hinhalten.
Er gab dem Jungen einen Stoß, und der Körper fiel mit einem lauten Platsch ins Wasser. Überrascht von dem plötzlichen Geräusch in der Stille der Dunkelheit, fuhr der Mann zusammen.
Die Leiche des Jungen versank im Wasser und verschwand.
Der Mann, der kein Mörder war, kehrte zu seinem Auto zurück, das er auf einem kleinen Waldweg geparkt hatte, und fuhr nach Hause.
P olizei Västerås, Sie sprechen mit Klara Lidman.»
«Ich möchte meinen Sohn vermisst melden.»
Die Frau klang beinahe entschuldigend. Als wäre sie nicht sicher, ob sie die richtige Nummer gewählt hatte, oder als erwartete sie im Grunde nicht, dass man ihr glauben würde. Klara Lidman zog ihren Notizblock heran, obwohl das Gespräch ohnehin auf Band aufgezeichnet wurde.
«Wie ist Ihr Name?»
«Lena Eriksson. Mein Sohn heißt Roger. Roger Eriksson.»
«Und wie alt ist Ihr Sohn?»
«Sechzehn. Ich habe ihn seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen.»
Klara notierte das Alter und begriff, dass sie diese Angelegenheit sofort an die Kollegen weiterleiten musste. Vorausgesetzt, der Junge war tatsächlich verschwunden.
«Seit wann genau gestern Nachmittag?»
«Er hat sich so gegen fünf aus dem Staub gemacht.»
Vor zweiundzwanzig Stunden. Zweiundzwanzig wichtige Stunden, wenn ein Mensch vermisst wurde.
«Wissen Sie, wohin er gegangen ist?»
«Ja, zu Lisa.»
«Wer ist das?»
«Seine Freundin. Ich habe heute bei ihr angerufen, aber sie hat gesagt, dass er gestern Abend gegen zehn wieder gegangen ist.»
Klara strich die beiden Zweien auf dem Notizzettel durch und ersetzte sie durch eine Siebzehn.
«Wohin ist er dann gegangen?»
«Das wusste sie nicht. Nach Hause, dachte sie. Aber er kam hier nicht an. Die ganze Nacht nicht. Und jetzt ist fast schon ein Tag vergangen.»
Und da rufst du erst jetzt an,
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