Der Mann, der kein Mörder war
seiner Erfahrung nach lediglich eine Drei auf der Schwierigkeitsskala dar. Auch wenn es ein wenig davon abhing, was sie lasen.
Er stand auf und ging die wenigen Schritte zu ihrem Platz.
«Ich gehe ins Bordrestaurant, darf ich Ihnen etwas mitbringen?»
Die Frau sah fragend von ihrem Buch auf. Unsicher, ob er sie meinte. Das tat er offenbar, wie sie begriff, als sich ihre Blicke trafen.
«Nein, danke.» Beinahe demonstrativ wandte sie sich wieder ihrem Buch zu.
«Sicher? Nicht mal eine Tasse Kaffee?»
«Nein, danke.» Diesmal sah sie nicht mal mehr hoch.
«Tee? Heiße Schokolade?» Jetzt ließ sie das Buch sinken und blickte irritiert zu Sebastian auf. Er setzte sein fast schon patentiertes Lächeln auf.
«Mittlerweile kann man dort auch Wein kaufen, aber dafür ist es vielleicht noch ein bisschen früh?» Die Frau antwortete nicht.
«Sie wundern sich vielleicht, warum ich Sie frage», fuhr Sebastian fort. «Ich fühlte mich dazu gezwungen. Ich sehe es als meine Pflicht an, Sie vor diesem Buch zu retten. Ich habe es gelesen. Sie werden mir noch dankbar sein.» Die Frau sah auf, und ihre Blicke trafen sich erneut. Sebastian lächelte. Die Frau erwiderte sein Lächeln.
«Eine Tasse Kaffee wäre prima. Schwarz, ohne Zucker.»
«Wird erledigt.» Sebastians Lächeln breitete sich immer mehr auf seinem Gesicht aus, während er seinen Weg durch den Waggon fortsetzte. Die Reise nach Västerås würde auf jeden Fall ganz nett werden.
Auf dem Polizeipräsidium in Västerås herrschte geschäftiges Treiben. Kerstin Hanser warf einen gestressten Blick auf die Uhr. Sie musste los. Dabei wollte sie weiß Gott nicht. Sie konnte mit Leichtigkeit neunundneunzig Dinge aufzählen, die sie lieber getan hätte, als in die Rechtsmedizin zu fahren und Lena Eriksson zu treffen. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Obwohl sie hundertprozentig sicher waren, dass der tote Junge, den sie gefunden hatten, wirklich Roger Eriksson war, wollte die Mutter ihn sehen. Hanser hatte ihr abgeraten, doch Lena Eriksson hatte darauf bestanden. Sie wollte ihren Sohn sehen. Allerdings hatte sie den Termin schon zweimal verschoben. Warum, wusste Hanser nicht, aber ihr wäre es ohnehin am liebsten gewesen, wenn die Mutter ganz abgesagt hätte. Oder wenn sie nicht mitgehen müsste. Diesen Teil ihrer Arbeit mochte sie am wenigsten, und wenn sie ehrlich war, zählte er auch nicht zu ihren Stärken. Sie versuchte diese Situationen zu vermeiden, wann immer das ging, aber es schien, als erwarteten die Kollegen von ihr, dass sie – als Frau – besser damit umgehen könne. Dass sie leichter die richtigen Worte fand. Dass die Angehörigen, die Trauernden, eine Todesnachricht besser verkrafteten, wenn sie von einer Frau ausgesprochen wurde. Hanser fand das idiotisch. Sie wusste nie, was sie sagen sollte. Sie konnte ihr tiefes Mitgefühl ausdrücken, möglicherweise eine Umarmung oder eine Schulter zum Weinen anbieten, die Telefonnummer eines seelischen Beistands vermitteln und wieder und wieder versichern, dass die Polizei alles in ihrer Macht Stehende unternahm, um den oder die Täter zu fassen. Klar, all das konnte sie tun, aber meistens ging es einfach nur darum, dazustehen. Und das konnte jeder übernehmen.
Sie erinnerte sich noch nicht einmal daran, wer von der Polizei dabei gewesen war, als sie und ihr Mann Niklas identifiziert hatten. Ein Mann. Ein Mann, der einfach nur dagestanden hatte.
Eigentlich hätte sie einen Kollegen schicken können. Hätte das sicher auch getan, wenn der bisherige Ermittlungsstand anders ausgesehen hätte. Jetzt durfte sie nichts riskieren. Die Medien waren überall. Offenbar wussten sie bereits, dass das Herz des Opfers fehlte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch herausfinden würden, dass der Junge bereits seit drei Tagen verschwunden war, als die Polizei mit der Suche begann. Und die Sache mit den traumatisierten minderjährigen Pfadfindern im Wald und Haraldssons «schwerer Verstauchung». Ab sofort würde es bei dieser Ermittlung keinen weiteren Anlass zur Kritik geben. Dafür würde sie persönlich sorgen. Sie wollte mit den Besten zusammenarbeiten und diesen grausamen Fall schnell abschließen. Das war ihr Plan.
Das Telefon klingelte. Es war die Kollegin vom Empfang. Die Reichsmordkommission war eingetroffen. Hanser warf einen Blick auf die Wanduhr. Die waren früh dran.
Sie wollte sie wenigstens schnell begrüßen, Lena Eriksson würde ein paar Minuten warten müssen, daran ließ sich jetzt
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