Der Mann, der kein Mörder war
entdeckt zu werden.
Die Gefahr dabei, das Unaussprechliche zu tun.
Das Adrenalin und Endorphin, das dabei freigesetzt wurde, war der Turboantrieb, der Brennstoff, das, was verpuffte und den Motor dazu brachte, auf Hochtouren zu laufen. Aus diesem Grund suchten manche Menschen immer neue Kicks, und Mörder wurden zu Serienmördern. Es war schwer, wieder in den Leerlauf zurückzufallen, wenn man den Motor einmal hochgejagt hatte. Die Kraft gespürt und entdeckt hatte, was einen zum Leben erweckte. Die Gefahr.
«Meinst du denn wirklich Gefahr, nicht eher den Nervenkitzel?» Stefan beugte sich vor, nachdem Sebastian verstummt war.
«Sind wir hier im Schwedischunterricht?»
«Du hast doch gerade einen Vortrag gehalten.» Stefan nahm die Karaffe vom Tisch neben sich, schenkte ein Glas Wasser ein und reichte es Sebastian. «Wirst du nicht eigentlich dafür bezahlt, Vorträge zu halten, anstatt nun selbst dafür zu bezahlen, welche halten zu dürfen?»
«Ich bezahle dich dafür, dass du mir zuhörst. Egal, was ich sage.»
Stefan lachte und schüttelte den Kopf.
«Nein, du weißt genau, wofür du mich bezahlst. Du brauchst Hilfe, und durch diese kleinen Exkurse haben wir weniger Zeit, über die Dinge zu sprechen, die wir wirklich behandeln sollten.»
Sebastian erwiderte nichts und verzog keine Miene. Er mochte Stefan, er gab keinen Mist von sich.
«Wenn wir also nochmal auf deine Mutter zurückkommen könnten: Wann findet die Beerdigung statt?»
«Hat schon stattgefunden.»
«Und, warst du da?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Weil ich der Meinung war, dass die Zeremonie den Leuten vorbehalten sein sollte, die sie wirklich mochten.»
Stefan betrachtete ihn einen Moment lang schweigend.
«Wie du siehst, haben wir noch eine Menge zu bereden.»
Der Waggon neigte sich in die Kurve. Draußen erstreckte sich eine schöne Landschaft, der Zug donnerte durch die frischgrünen Wiesen und Wälder nordwestlich von Stockholm. Der Mälarensee schimmerte in seiner glitzernden Pracht durch die Bäume hindurch. Jedem anderen Fahrgast wäre bei diesem Anblick wahrscheinlich der Gedanke an die Vielfalt des Lebens gekommen. Bei Sebastian war das Gegenteil der Fall. Er sah keine Möglichkeiten in der Schönheit, die ihn umgab. Er richtete seinen Blick zur Decke. Sein ganzes Leben lang war er vor seinen Eltern geflüchtet. Vor dem Vater, gegen den er seit seiner Jugend angekämpft hatte, und vor seiner Mutter, die still und würdevoll gewesen war, aber nie auf seiner Seite. Nie auf seiner Seite, so hatte er es empfunden.
Für einen Moment stiegen ihm Tränen in die Augen. Dieses Weinen hatte er erst in den letzten Jahren gelernt. Komisch, dachte er, dass man in meinem Alter etwas so Einfaches wie Tränen entdeckt. Emotional, irrational, genau das, was er nie hatte sein wollen. Seine Gedanken wanderten wieder zu dem Einzigen zurück, von dem er wusste, dass es seine Gefühle betäuben konnte: Frauen. Noch ein Versprechen, das Sebastian gebrochen hatte. Als er Lily begegnet war, hatte er beschlossen, ihr treu zu sein, und war von diesem schmalen Pfad nicht abgewichen. Doch wegen des aufreibenden Traums, der ihn jede Nacht heimsuchte, und wegen seiner leeren, sinnlosen Tage hatte er schließlich doch keinen anderen Ausweg mehr gewusst. Die Jagd nach neuen Eroberungen und kurzen Stunden mit unterschiedlichen Frauen erfüllte sein Leben, denn dabei gewannen seine Gedanken zumindest vorübergehend den Kampf gegen das Ohnmachtsgefühl. Als Mann, als Liebhaber, als Raubtier auf der ständigen Jagd nach neuen Frauen funktionierte er. Wenigstens diese Fähigkeit war ihm erhalten geblieben, was ihn freute und zugleich ängstigte. Sollte das alles sein, was ihn ausmachte – ein alleinstehender Mann, der sich die Zeit mit Jungen, Alten, Studentinnen, Kolleginnen, Verheirateten und Singles vertrieb. Er diskriminierte niemanden. Es gab nur eine Regel für ihn: Die Frau sollte ihm gehören. Sie sollte ihm zeigen, dass er nicht wertlos war, dass er lebendig war. Er wusste selbst, wie destruktiv sein Verhalten war, aber er behielt es bei und verdrängte die Erkenntnis, dass er eines Tages vermutlich gezwungen sein würde, einen anderen Ausweg zu finden.
Er fing an, sich im Großraumwagen umzusehen. Sein Blick blieb an einer Brünetten hängen, die ein Stück entfernt von ihm saß. Etwa vierzig, graublaue Bluse, teure Goldohrringe. Nicht schlecht, dachte er. Sie las ein Buch. Perfekt. Lesende Frauen in den Vierzigern stellten
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