Der Mann, der kein Mörder war
dumpfen Schlag hinter ihm ins Schloss. Er betrachtete erneut die Tafel mit den Namen der Bewohner, obwohl er genau wusste, was darauf stand. Dritter Stock. Er überlegte eine Zeitlang, ob er den Aufzug nehmen sollte, der in einem schwarzen Quadrat aus Stahlnetz mitten durchs Haus fuhr, aber er entschied sich dagegen. Er brauchte alle Zeit, die er bekommen konnte. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug und er an den Händen schwitzte. Er war nervös, und das geschah nicht oft.
Langsam begann er die Treppen hinaufzusteigen.
Im dritten Stock gab es zwei Türen. Auf der einen las er Eriksson und einen weiteren Namen. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich zu sammeln, schloss die Augen und atmete zweimal tief durch. Dann trat er vor und klingelte. Nichts geschah. Sebastian war beinahe erleichtert. Keiner zu Hause. Er hatte es versucht, doch niemand hatte ihm geöffnet. Er hatte sich also getäuscht – und Anna Eriksson doch nicht treffen sollen. Jedenfalls nicht heute. Sebastian wollte sich gerade umdrehen und die Treppe hinuntergehen, als er in der Wohnung Schritte hörte. Eine Sekunde darauf wurde die Tür geöffnet.
Eine Frau, die einige Jahre jünger war als er, blickte ihn fragend an. Sie hatte schulterlanges, dunkles Haar und blaue Augen. Hohe Wangenknochen. Schmale Lippen. Sebastian erkannte sie nicht wieder. Er hatte keinerlei Erinnerung daran, je mit dieser Frau geschlafen zu haben, die gerade ihre Hände an einem rotkarierten Geschirrtuch abwischte und ihn fragend ansah.
«Hallo, sind Sie …» Sebastian verlor den Faden. Wusste nicht, wo er anfangen sollte. Sein Kopf war vollkommen leer, und gleichzeitig wirbelten Tausende von Gedanken darin herum. Die Frau blieb stehen und sah ihn schweigend an.
«Anna Eriksson?», presste Sebastian am Ende hervor. Die Frau nickte.
«Ich heiße Sebasti…»
«Ich weiß, wer du bist», unterbrach ihn die Frau. Sebastian erstarrte.
«Wirklich?»
«Ja. Was machst du hier?»
Sebastian schwieg. Er hatte diese Begegnung viele Male im Kopf durchgespielt, seit er die Briefe gefunden hatte. Aber jetzt hatte sie eine Wendung genommen, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte. So hatte er sich ihr erstes Treffen niemals vorgestellt. Er hatte geglaubt, dass sie schockiert sein, vielleicht sogar ein wenig wanken würde. Zumindest völlig überrascht wäre. Ein dreißig Jahre zurückliegender Geist stand vor ihrer Tür. In jedem Fall hätte er gedacht, sich ausweisen zu müssen, damit sie ihm überhaupt glaubte. Seine Vorstellung stimmte ganz und gar nicht mit der Frau überein, die einen Zipfel des Küchenhandtuchs in ihrem Hosenbund feststeckte und ihn herausfordernd ansah.
«Ich …» Sebastian verstummte. Auch das war er in Gedanken durchgegangen. Daran konnte er sich halten. Er konnte mit dem Anfang beginnen.
«Meine Mutter starb, und als ich ihr Haus entrümpelte, habe ich einige Briefe gefunden.»
Die Frau schwieg, nickte jedoch. Offenbar wusste sie, um welche Briefe es sich handelte.
«Darin stand, dass du schwanger seist, und zwar von mir. Ich bin nur gekommen, um herauszufinden, ob das stimmt, und was seither geschehen ist.»
«Komm rein.»
Die Frau trat zur Seite, und Sebastian kam in den relativen kleinen Flur. Anna schloss die Tür hinter sich, und er beugte sich hinab, um seine Schuhe auszuziehen.
«Das ist nicht nötig. Lange sollst du nicht hier bleiben.»
Sebastian richtete sich mit einer fragenden Miene wieder auf.
«Ich wollte dich nur aus dem Treppenhaus weg haben. Es hallt so sehr.» Anna stellte sich in dem engen Flur vor ihn und verschränkte ihre Arme.
«Es stimmt. Ich war schwanger und habe nach dir gesucht, dich aber nicht gefunden. Und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich schon vor langer Zeit mit der Suche aufgehört.»
«Ich verstehe, dass du wütend bist, aber …»
«Ich bin nicht wütend.»
«Die Briefe haben mich nie erreicht. Ich wusste von nichts.»
Sie standen sich schweigend gegenüber. Einen Augenblick lang überlegte Sebastian, was passiert wäre, wenn er es erfahren hätte. Damals. Ob er zu Anna Eriksson zurückgekehrt und Vater geworden wäre. Wie hätte sein Leben mit dieser Frau ausgesehen? Natürlich war es idiotisch, auch nur daran zu denken. Es war sinnlos, über eine mögliche Zukunft, eine alternative Gegenwart zu spekulieren. Außerdem wäre er nie zu ihr zurückgekehrt, auch nicht, wenn er die Briefe erhalten hätte. Nicht damals. Nicht der alte Sebastian.
«Ich habe dich vor, wie lange mag das her
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