Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
sondern druckste herum, während er mit seinem Stiefel unsichtbare Staubflusen auf den Dielen von links nach rechts schob.
Tom blickte fragend zu Sid, dann wieder zum Sheriff. »Joe? Willst du noch was sagen?«
»Jaah«, kam es gedehnt von Joe. »Weißt du, Tom, die Wahl zum Sheriff steht an, und Saul Jones, der Sohn vom alten Waliser, bewirbt sich auch, obwohl er eigentlich der Postmeister von St. Petersburg ist. Aber er hat jede Menge Freunde, und ein bisschen Geld scheint er auch zu haben, und er gibt jedem Penner, der ihn darum bittet, einen aus und … Also jedenfalls … wäre es natürlich gut, wenn ich Huck bis zur Wahl finden würde. Für die Leute hier, meine ich, und ich dachte mir, ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen, weil … Ich mein, immerhin war sie ja deine Tante, und du warst mal bei Pinkerton.«
Tom blickte auf. Joe wippte auf den Füßen und versuchte so etwas wie ein schüchternes Grinsen. Große weiße Zähne blitzten unter dem buschigen Schnurrbart hervor wie Kieselsteine.
Tom schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Joe. Ich bin kein Detektiv mehr. Das letzte Mal, als ich eine Waffe getragen habe, um jemanden zu beschützen, ist der Mann gestorben. Und ich hab bestimmt keine Lust, dabei zu sein, wenn man Huck Finn fasst und ihm den Prozess macht. Wahrscheinlich ist er eh schon über alle Berge.«
Joe blickte enttäuscht zu Boden. Tom sah zu Sid hinüber. Dunkle Ringe lagen unter dessen Augen, als hatte er viel geweint. Plötzlich bahnte sich eine Welle der Zuneigung ihren Weg in Toms Herz. »Ich werd mir ein Zimmer in einem der Saloons nehmen und dir ein paar Tage unter die Arme greifen, Siddy. Dann werd ich wieder gehen. Kannst du einen Saloon empfehlen, wo ich keine Läuse bekomme und wo die Wanzen einen nicht gleich auffressen?«
Sid zog die Stirn kraus. »Aber … Du kannst hier wohnen, Tom. Ich werd auf der Couch schlafen, und du kannst mein Zimmer … unser altes Zimmer haben.«
Tom nickte. »Danke. Aber ich will dir nicht zur Last fallen. Ich nehme an, deine Hochzeit ist erst mal verschoben?«
»Ja. Rebecca war die Erste, die gesagt hat, wir müssten erst mal warten. Sie ist immer so verständnisvoll.«
»Rebecca?«
»Meine Braut. Becky Thatcher. Du kannst sie unmöglich vergessen haben, Tom!«
~~~
Becky Thatcher. Becky.
Tom hatte sie nicht vergessen. Wie auch? Seine Wange brannte immer noch, wenn er an den Abschied vor zehn Jahren dachte.
Tom knallte das leere Glas auf den Tresen und bestellte sich einen vierten Whiskey. Sein Koffer stand ungeöffnet neben dem Spucknapf am Ende des Tresens, um den herum braune Tabaksprenkel verspritzt waren. Tom hatte sich noch nicht einmal das Zimmer angesehen, das ihm der Wirt für zwei und einen halben Dollar die Nacht vermietete. Stattdessen war er gleich am Tresen geblieben; er wollte sich dermaßen betrinken, dass man ihn später in sein Zimmer würde hinauftragen müssen. Deswegen hatte er dem Wirt Harold, mit einem eindrucksvollem Backenbart und einer zerfurchten unförmigen Nase, und seinem kräftig wirkenden Sohn Timothy schon im Voraus ein großzügiges Trinkgeld zukommen lassen.
Whiskey. Vielleicht kam dann endlich der Schlaf. Oder zumindest eine andere Form geistiger Abwesenheit. Tom seufzte. Er war am Morgen mit der Absicht nach St. Petersburg gekommen, etwas Ruhe zu finden, und nun musste er feststellen, dass seine Tante ermordet worden war – vermutlich von seinem besten Freund. Und dass sein Halbbruder, den er nie wirklich hatte leiden können, dabei war, seine Jugendliebe zu heiraten. Wenn das nicht Grund genug war, einen zu heben, was dann?
Tom legte den Kopf in den Nacken, goss sich Whiskey Nummer vier in die Kehle und schüttelte sich. Das Zeug schmeckte grässlich. Der Wirt putzte mit seiner speckigen Schürze die zerkratzten Gläser, hielt sie prüfend ins Licht und blickte dann mit demselben prüfenden Blick auf Tom und die leeren Gläser vor diesem. »Gehen Sie’s langsam an, Mister. Der Abend ist noch jung.«
»Der Abend hat noch gar nicht angefangen, Harold. Wenn ich Ihnen zur Last falle, dann stellen Sie die Flasche einfach her, dann kann ich selbst nachschenken.«
»Hab’s ja nur gut gemeint.« Der Wirt hob beschwichtigend die Hände und stellte dann die Flasche mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit vor Tom hin. »Man sollte was essen, bevor man die erste Flasche leert.«
Tom blickte aus trüben Augen auf. »Sollte man, Harold? Man sollte so vieles, wissen Sie? Man sollte zum Beispiel
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