Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
und ihn gebeten, seinen Schuh wieder anzuziehen, während ich meinen Augenspiegel zusammensetzte. Zu meiner Überraschung hatte er eine Minute später seinen Schuh noch nicht wieder angezogen.
«Kann ich Ihnen helfen?» fragte ich. «Wobei? Wem?»
«Kann ich Ihnen helfen, den Schuh wieder anzuziehen?» «Ach», sagte er, «den Schuh hatte ich ganz vergessen», und fügte mit leiser Stimme hinzu: «Den Schuh? Den Schuh?» Er schien verwirrt.
«Ihren Schuh», wiederholte ich. «Sie sollten ihn vielleicht lieber wieder anziehen. »
Ohne den Schuh zu beachten, sah er mit intensiver, aber irregeleiteter Konzentration an sich hinunter. Schließlich blieb sein Blick an seinem Fuß hängen: «Das ist doch mein Schuh, oder?»
Hatte ich mich verhört? Hatte er sich versehen?
«Meine Augen», sagte er erklärend und berührte seinen Fuß mit der Hand. «Das ist mein Schuh, nicht wahr?»
«Nein, das ist Ihr Fuß. Ihr Schuh ist dort. » «Ah, und ich dachte, das sei mein Fuß. » Machte er Witze? War er verrückt? War er blind? Wenn das einer seiner «seltsamen Fehler» war, dann war es der seltsamste Fehler, den ich je gesehen hatte.
Um weiteren Komplikationen vorzubeugen, half ich ihm, seinen Schuh (seinen Fuß) anzuziehen. Dr. P. schien gelassen, unbekümmert zu sein - fast hatte ich den Eindruck, als amüsiere ihn der Zwischenfall. Ich setzte meine Untersuchung fort. Sein Sehvermögen war gut: Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, eine Nadel auf dem Boden zu erkennen; nur manchmal, wenn sie zu seiner Linken lag, entging sie ihm.
Er konnte also gut sehen, aber was sah er? Ich schlug eine Zeitschrift auf und bat ihn, einige der Bilder darin zu beschreiben.
Seine Reaktion war äußerst merkwürdig. Seine Augen huschten von einem Objekt zum nächsten, sie registrierten winzige Einzelheiten, individuelle Eigenarten, wie sie es mit meinem Gesicht getan hatten. Ein auffallend heller Punkt, eine Farbe, eine Form erregte seine Aufmerksamkeit und ließ ihn eine Bemerkung machen - aber in keinem Fall nahm er das Bild in seiner Ganzheit in sich auf. Er konnte nicht das Ganze sehen, sondern nur Details, die er wie ein Radarschirm registrierte. Nie trat er in eine Beziehung zu dem Bild - nie befaßte er sich sozusagen mit der Physiognomie der Abbildung. Er hatte keinerlei Begriff von Landschaft oder Szenerie.
Ich zeigte ihm das Titelbild der Zeitschrift, eine endlose Reihe von Sanddünen in der Sahara.
«Was sehen Sie hier?» fragte ich.
«Ich sehe einen Fluß», sagte er. «Und am Ufer ist ein kleines Gasthaus mit einer Terrasse. Auf der Terrasse sitzen Leute und essen. Hier und da stehen bunte Sonnenschirme. » Er sah - wenn man das «sehen» nennen kann- an der Zeitschrift vorbei in die Luft und plauderte ungezwungen über nichtexistente Dinge, als hätte das Fehlen von Gegenständen auf dem Bild ihn dazu gezwungen, sich den Fluß, die Terrasse und die bunten Sonnenschirme vorzustellen.
Ich muß entsetzt dreingeblickt haben, aber er schien davon überzeugt zu sein, daß er seine Sache gut gemacht hatte. Ein Lächeln spielte um seinen Mund. Außerdem hatte er anscheinend den Eindruck, die Untersuchung sei abgeschlossen, denn er sah sich nach seinem Hut um. Er streckte die Hand aus und griff nach dem Kopf seiner Frau, den er hochzuheben und aufzusetzen versuchte. Offenbar hatte er seine Frau mit einem Hut verwechselt! Seine Frau sah aus, als sei sie derlei gewohnt.
Die konventionelle Neurologie (oder Neuropsychologie) bot keine Erklärung für das, was geschehen war. In gewissen Bereichen schien Dr. P. völlig normal, in anderen jedoch absolut und auf unerklärliche Weise gestört zu sein. Wie konnte er einerseits seine Frau mit einem Hut verwechseln und andererseits offenbar immer noch als Professor an einer Hochschule für Musik unterrichten?
Ich mußte nachdenken und ihn noch einmal untersuchen - und zwar in seiner Wohnung, seiner vertrauten Umgebung. Einige Tage später besuchte ich Dr. P. und seine Frau. Ich hatte verschiedene Dinge dabei, mit denen ich seine Wahrnehmung testen wollte, unter anderem die Noten der «Dichter liebe» (ich wußte, daß er Schumann liebte). Frau P. öffnete mir und bat mich herein. Die Einrichtung der geräumigen Wohnung ließ mich an Berlin um die Jahrhundertwende denken. Im Mittelpunkt des Wohnzimmers stand ein herrlicher alter Bösendorfer-Flügel, umgeben von Notenständern, Instrumenten, Noten... In dem Zimmer gab es auch Regale mit Büchern, und an den Wänden hingen Gemälde, aber die
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