Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
getan habe - und warum.
Meine Entscheidung für zwei Motti, die Gegensätzliches zum Ausdruck bringen - eben jene Gegensätzlichkeit, die für Ivy McKenzie zwischen dem Arzt und dem Naturwissenschaftler besteht-, entspricht den zwei Seelen in mir selbst: Ich fühle mich sowohl als Naturwissenschaftler wie auch als Arzt; ich interessiere mich gleichermaßen für Menschen wie für Krankheiten;
und vielleicht machen sich diese zwei Seelen auch in der Tatsache bemerkbar, daß ich gleichermaßen, wenn auch nur unzulänglich, theoretisch und szenisch arbeite, mich gleichermaßen zum Wissenschaftlichen wie zum «Romantischen» hingezogen fühle, daß ich stets diese beiden Elemente im menschlichen Sein wiederfinde, nicht zuletzt im Kranksein, jenem wesentlichen Merkmal des Menschen. Auch Tiere werden krank, aber nur der Mensch kann Krankheit als solche erfahren.
Meine Arbeit, mein Leben gehört den Kranken -aber sie und ihre Krankheit bringen mich auf Gedanken, auf die ich sonst vielleicht nicht kommen würde. Das geht so weit, daß ich den Drang fühle, mich Nietzsche anzuschließen, der schreibt: «Und was die Krankheit angeht: würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist?», und die Fragen, die die Krankheit aufwirft, als grundsätzliche Fragen der Existenz anzusehen. Meine Patienten stellen mich ständig vor Fragen, und meine Fragen führen mich ständig zu neuen Patienten - so kommt es, daß es in diesen Geschichten oder Untersuchungen eine stete Bewegung vom einen zum anderen gibt.
Untersuchungen, ja - aber warum Geschichten oder Fallstudien? Das historische Konzept von Krankheit, der Gedanke, daß eine Krankheit vom Auftreten der ersten Anzeichen über ihren Höhepunkt, ihre Krisis und weiter bis zu ihrem glücklichen oder letalen Ausgang einen bestimmten Verlauf nimmt, geht auf Hippokrates zurück. Er war es also, der die Krankengeschichte, das heißt die Beschreibung oder anschauliche Darstellung des Krankheitsverlaufs, eingeführt hat - exakt das also, was mit dem alten Wort «Pathographie» bezeichnet wird.
Solche Krankengeschichten sind eine Art Naturgeschichte - sie verraten uns jedoch nichts über das Individuum und seine Geschichte; sie sagen nichts über die Person und ihre Erfahrungen im Kampf gegen die Krankheit aus. In einer knappen Krankengeschichte gibt es kein «Subjekt» - es wird in der modernen Anamnese nur mit einer oberflächlichen Beschreibung erfaßt («ein trisomischer, weiblicher Albino von einundzwanzig Jahren»), die ebenso auf eine Ratte wie auf einen Menschen zutreffen könnte. Um die Person - den leidenden, kranken und gegen die Krankheit ankämpfenden Menschen - wieder in den Mittelpunkt zu stellen, müssen wir die Krankengeschichte zu einer wirklichen Geschichte ausweiten; nur dann haben wir sowohl ein «Wer» als auch ein «Was», eine wirkliche Person, einen Patienten, der in seiner Beziehung zur Krankheit, in seiner Beziehung zum Körperlichen faßbar wird.
Für die Psychologie und die Feinbereiche der Neurologie ist das Wesen des Patienten von großer Bedeutung, denn hier geht es ja in der Hauptsache um seine Persönlichkeit, und seine Krankheit und seine Identität können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Solche Störungen, deren Studium und deren Beschreibung erfordern eine neue Disziplin, die man «Neurologie der Identität» nennen könnte, denn sie beschäftigt sich mit den neuralen Grundlagen des Selbst, der uralten Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist. Es mag sein, daß - notwendigerweise - eine kategorische Kluft zwischen dem Psychischen und dem Physischen besteht; Untersuchungen und Geschichten jedoch, die sich gleichzeitig und untrennbar auf beides beziehen - und diese sind es, die mich besonders faszinieren und die ich hier vorstellen will -, mögen dennoch dazu dienen, beide Bereiche einander anzunähern und uns in den Stand zu versetzen, den Schnittpunkt von Funktion und Leben, die Auswirkungen physiologischer Prozesse auf die Biographie zu erhellen.
Die Tradition höchst menschlicher Geschichten von Kranken erreichte ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Ihr Niedergang begann mit dem Aufstieg einer unpersönlichen neurologischen Wissenschaft. Der große russische Neuropsychologe Alexander R. Lurija schrieb: «Die Kunst, etwas zu beschreiben, jene Kunst, die die großen Psychiater und Neurologen des 19. Jahrhunderts beherrschten, ist heute fast ausgestorben... Sie muß wiederbelebt werden.
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