Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
dessen Fall in ‹The Man wich a Shattered World› beschrieben wird, war die linke Gehirnhälfte schwer beschädigt - die rechte dagegen intakt. Kurzum: Die gesamte Geschichte der Neurologie und der Neuropsychologie ist eine Geschichte der Erforschung der linken Gehirnhälfte.
Ein wichtiger Grund für die Vernachlässigung der rechten Hemisphäre besteht darin, daß es leicht ist, die Auswirkungen verschiedenster Verletzungen der linken Seite zu demonstrieren, während die entsprechenden Syndrome der rechten Gehirnhälfte weit weniger deutlich ausgeprägt sind. Man hält sie, gewöhnlich mit leichter Verachtung, für «primitiver» als die linke, die als einzigartige Blüte der menschlichen Evolution gilt. Und in gewisser Weise stimmt das auch: Die linke Gehirn hälfte ist differenzierter und spezialisierter - sie stellt die letzte Entwicklungsstufe des Gehirns der Primaten, vor allem des Menschen dar. Andererseits ist die rechte Hälfte in entscheidendem Maße an der Wahrnehmung der Wirklichkeit beteiligt, eine Fähigkeit, über die jedes Lebewesen verfügen muß, um überleben zu können. Die linke Hemisphäre funktioniert wie ein Computer, der dem ursprünglichen Gehirn angefügt ist und Programme und schematische Abläufe zu bewältigen vermag; die klassische Neurologie aber beschäftigte sich mehr mit schematischen Abläufen als mit der Realität, so daß man einige Syndrome der rechten Gehirnhälfte nach ihrer Entdeckung lediglich als wunderliche Phänomene abtat.
In der Vergangenheit haben einige Wissenschaftler - so zum Beispiel Anton in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und Pötzl 1928 - versucht, die Syndrome der rechten Gehirn hälfte zu untersuchen, aber diese Versuche sind ihrerseits wie der auf bizarre Weise ignoriert worden. In ‹The Working Brain›, einem seiner letzten Bücher, widmet Lurija den Syndromen der rechten Gehirnhälfte einen kurzen, aber vielversprechenden Abschnitt. Er endet mit den Worten: «Diese noch immer völlig unerforschten Defekte bringen uns zu einem der grundlegendsten Probleme: Welche Rolle spielt die rechte Gehirnhälfte im direkten Bewußtsein?... Die Erforschung dieses höchst wichtigen Bereiches ist bis jetzt vernachlässigt worden... Gegenwärtig bereite ich eine Reihe von Berichten vor, die eine detaillierte Analyse enthalten werden. »
Einige dieser Berichte schrieb Lurija noch in den letzten Monaten seines Lebens, als er schon todkrank war. Ihre Veröffentlichung erlebte er nicht mehr - und sie wurden nie in Rußland publiziert. Er schickte sie an R. L. Gregory in England, und sie werden demnächst in Gregorys Oxford ‹Companion to the Mind› erscheinen.
Ein Neurologe, der Defekte der rechten Hemisphäre erforschen will, steht vor erheblichen inneren und äußeren Schwierigkeiten. Es ist für Patienten mit bestimmten Syndromen der rechten Gehirnhälfte nicht nur schwierig, sondern unmöglich, ihre eigene Störung zu erkennen - dies ist eine besondere und spezifische Form der «Anosagnosie», wie Babinski sie genannt hat. Und auch für den einfühlsamsten Beobachter ist es außerordentlich schwer, sich in die innere Verfassung, die «Situation» solcher Patienten zu versetzen, denn diese ist fast unvorstellbar weit von allem entfernt, was er selbst je erlebt hat. Im Gegensatz dazu kann man sich in die Syndrome der linken Gehirnhälfte relativ leicht hineinversetzen. Obwohl die Syndrome der rechten Gehirnhälfte ebenso häufig sind wie die der linken - und warum sollten sie das auch nicht sein?-, wird man in der neurologischen und neuropsychologischen Literatur auf tausend Beschreibungen von Syndromen der linken Hemisphäre nur eine Beschreibung von Störungen der rechten finden. Es ist, als seien diese Symptomkomplexe dem «neurologischen Naturell» irgendwie fremd. Und doch haben sie, wie Lurija sagt, eine fundamentale Bedeutung: Vielleicht erfordern und fördern sie eine neue Art der Neurologie, eine «personalistische» oder (wie Lurija sich gern ausdrückte) eine «romantische» Wissenschaft, denn hier eröffnen sich der Forschung die physischen Grundlagen der persona, des Selbst. Eine solche Forschung begänne nach Lurij as Meinung am besten mit einer Geschichte - der detaillierten Krankengeschichte eines Mannes mit einer tiefgreifenden Störung der rechten Gehirnhälfte. Diese Krankengeschichte wäre das Gegenteil und Gegenstück zur Geschichte von dem «Mann, dessen Welt in Scherben fiel». In einem seiner letzten Briefe schrieb mir Lurij a:
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