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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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stand eine kurze Schlange, aber wer ich war, konnte mir dort vermutlich auch niemand sagen. Todesmutig betrat ich eine öffentliche Toilette, um in den Spiegel zu sehen, und war bestürzt über das Alter des bärtigen Fremden, der mir mit finsterem Blick daraus entgegenstarrte: plus/minus vierzig, mit angegrauten Schläfen und beginnender Glatze. Schwer zu sagen, ob es sich um eine Alters- oder eine Verschleißerscheinung handelte. Ich hatte mich wie selbstverständlich für Anfang zwanzig gehalten und musste nun zu meinem Leidwesen feststellen, dass die güldene Zeit meiner Jugend bereits zwei Jahrzehnte zurücklag. Wie ich später erfuhr, hatte das nichts mit meiner Bewusstseinsstörung zu tun – so fühlt sich jeder Mensch in mittleren Jahren.
    »Verzeihung – können Sie mir vielleicht helfen? Ich kenne mich nicht aus …«, sagte ich zu einem jungen Mann im eleganten Anzug.
    »Wo wollen Sie denn hin?«
    »Ich weiß es nicht, ich hab’s vergessen.«
    »Ah ja, das kenne ich. Da müssen Sie die Northern Line nehmen und in der Fuck-You-Street umsteigen.«
    Andere Passanten ignorierten meine Bitten: Entweder senkten sie den Blick, oder sie hatten Stöpsel in den Ohren und waren taub gegen mein Flehen.
    »Entschuldigen Sie – ich weiß nicht, wer ich bin«, sagte ich zu einem sympathisch aussehenden Pfarrer, der einen Rollkoffer hinter sich herzog.
    »Tja … wer von uns weiß schon, wer er wirklich ist?«
    »Nein, so war das nicht gemeint. Ich weiß wirklich nicht, wer ich bin. Ich habe alles vergessen.«
    Seiner Körpersprache nach zu urteilen wollte er so schnell wie möglich weiter. »Tja, auch wenn wir bisweilen am Sinn des Lebens zweifeln mögen, sind wir doch jeder etwas ganz Besonderes … und jetzt hätte ich doch fast vergessen, dass ich mich beeilen muss, wenn ich meinen Zug noch erwischen will.«
    Nach der Begegnung mit dem Pfaffen fragte ich mich allen Ernstes, ob ich womöglich gestorben und auf dem Weg ins Paradies war. Andererseits musste Gott schon einen ziemlich schrägen Humor haben, wenn er uns zur Stoßzeit mit der Londoner U-Bahn gen Himmel fahren ließ. »Die Garten Eden GmbH bittet um Entschuldigung für die Verzögerung auf der Fahrt ins Jenseits. Fahrgäste in Richtung Hölle werden gebeten, in Boston Manor auszusteigen; es besteht Schienenersatzverkehr.« Trotzdem kam ich mir vor, als wäre ich gestorben. In einem traumähnlichen Schwebezustand gefangen, kannte ich niemanden, den es interessierte, ob ich lebte oder tot war. Ich hatte keine Leumundszeugen, die für meine Existenz bürgen konnten. Ich glaube, in diesem Augenblick wurde mir klar, dass dies eines der elementarsten Urbedürfnisse des Menschen ist – die schlichte Gewissheit, am Leben zu sein und von anderen wahrgenommen zu werden. »Ich existiere!«, schreien uns die Höhlenbilder aus der Steinzeit ins Gesicht. »Ich existiere!«, rufen die Graffiti-Schmierereien an den U-Bahn-Wänden. Das ist der einzige Sinn und Zweck des Internets – es gibt jedermann Gelegenheit, der Welt dort draußen mitzuteilen, dass es ihn gibt. StayFriends: »Hier bin ich! Hier drüben! Ja, ihr hattet mich vergessen, aber jetzt wisst ihr wieder, wer ich bin!« Facebook: »Das bin ich! Seht her, ich habe Fotos, Freunde, Interessen. Niemand kann behaupten, ich wäre nie geboren worden – hier ist der Beweis.« Der zentrale Grundsatz der abendländischen Philosophie des einundzwanzigsten Jahrhunderts lautet: »Ich twittere, also bin ich.«
    Es war schlimmer als Einzelhaft. Obwohl Tausende von Meilen fern der Heimat, hatten selbst die Touristen ringsum ihre Freunde und Verwandten bei sich, fein säuberlich in ihrem Gedächtnis verstaut. Mein geistiges Vakuum zeitigte körperliche Symptome; ich zitterte und bekam kaum Luft. Am liebsten wäre ich in die U-Bahn-Station zurückgegangen und hätte mich vor den nächsten Zug geworfen. Stattdessen beobachtete ich, wie eine Pendlerin ihren leeren Kaffeebecher im Vorbeigehen in den Karren eines Müllmanns werfen wollte und einfach weitereilte, als sie ihr Ziel verfehlte und der Becher zu Boden fiel. Ich bückte mich, hob ihn auf und legte ihn zu dem anderen Abfall, den der alte Asiate in dem schlechtsitzenden orangefarbenen Overall zusammenklaubte.
    »Danke«, sagte er.
    »Ähm, entschuldigen Sie, ich glaube, ich hatte eine Art Schlaganfall …«, sagte ich und versuchte, ihm meine Notlage auseinanderzusetzen. Als ich mich so reden hörte, fand ich meine Geschichte plötzlich derart unglaubwürdig, dass ich

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