0323 - Ich jagte das »Blaue Gesicht«
Er war ein vierfacher Mörder und seit Wochen Staatsfeind Nummer eins. Er führte die Fahndungsliste an, auf der die zehn gefährlichsten Verbrecher ständen, die man zur Zeit in den USA kannte. Er hieß Morris Fletcher, und auf seinen Kopf war eine Belohnung ausgesetzt: 10 000 Dollar.
Ohne Zögern hatte er getötet — aus kleinen Anlässen. Er war eine tödliche Gefahr für jeden, der zufällig auf ihn stieß und ihn erkannte.
Daß es, leicht war, Fletcher zu erkennen, sah ich, als ich zum ersten Male sein Foto in der Hand hielt. Es stammte aus unserem Archiv und zeigte den Kopf des Mörders von vorn.
»Mit diesem Gesicht muß er überall auffallen«, sagte mein Freund Phil, der mir über die Schulter blickte.
Der Verbrecher -hatte einen schmalen knochigen Schädel, den dünnes jotblondes Haar bedeckte. — Daß es rotblond war, konnte man aus dem Schwarz-Weiß-Foto natürlich nicht ersehen. Aber vor mir auf dem Schreibtisch lag Fletchers Karteikarte, und sie enthielt neben dem Criminal Record, der Vorstrafenliste, auch eine genaue Personenbeschreibung.
Über Fletchers linke Gesichtshälfte, vom Haaransatz bis zum Hals, zog sich ein dickes, knubbeliges, violettes Muttermal. Auf wulstigen vorgeschobenen Augenbögen wucherten buschige Brauen. Fletchers Augen waren klein und sehr hell und lagen tief in den Höhlen. Über der schmalen geraden Nase wuchsen die Brauen zusammen. Und sie wurden dort, wo sie sich trafen, nicht dünner und spärlicher, sondern dichter und kräftiger als an den äußeren Enden. Die aufgeworfene Unterlippe war in der Mitte gekerbt, das breite Kinn schien wie aus Eisen.
»Prägt euch das Gesicht ein«, sagte unser Chef, Mr. High, vor dessen Tisch wir standen.
»Einprägen ist gut«, knurrte Phil respektlos. »Wer das gesehen hat, wird davon träumen.«
Mr. High griff nach Fletchers Karteikarte und erklärte: »Er ist 37 Jahre alt und 189 cm groß. Bei seiner Entlassung aus dem Zuchthaus — das war vor zwei Jahren — wog er 94 Kilo. Sein linkes Knie ist steif. Das rührt von einem Autounfall aus dem Jahre 1955 her. Fletcher verfügt über Collegebildung und beherrscht zwei Fremdsprachen — Spanisch und Französisch. Genutzt hat er seine beachtlichen geistigen Fähigkeiten nicht. Er hat sich jahrelang als Gelegenheitsarbeiter durchgeschlagen und ist zeitweilig getrampt. Vor ungefähr drei Jahren wurde er wegen Rauschgifthandels zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt.«
Der Chef ließ die Karte sinken, zog eine dünne Akte heran, schlug sie auf und fuhr fort: »Den ersten Mord beging Fletcher am 7. April, also vor genau drei' Monaten. In Boston erstach er den Kassenboten Ernest Neeck auf offener Straße, konnte ihm die Geldtasche jedoch nicht entreißen, weil sich zwei beherzte Passanten auf ihn stürzten. Fletcher mußte fliehen ohne einen Cent Beute. Vier Tage später ermordete er — ebenfalls in Boston — den Kassenboten Max Schillinger, konnte zwar diesmal mit der Tasche entfliehen, hatte aber wiederum Pech. Die Tasche war leer. Schillinger hatte das Geld bereits abgeliefert und war auf dem Rückweg gewesen. Am 20. Mai erstach Fletcher den Taxifahrer Harry Miller. Das geschah in Salem, also einige Meilen nördlich von Boston. Es war nachts, in einer dunklen Nebenstraße. Fletcher erbeutete vermutlich 200 Dollar. Er wurde bei dieser Tat von einem Liebespaar beobachtet, das in einem Hauseingang stand. Am Vormittag des 16. Juni betrat Fletcher das in einer einsamen Straße gelegene Juweliergeschäft von Robert Jules — ebenfalls in Salem. Der Inhaber befand sich allein im Laden, erkannte Fletcher, dessen Beschreibung in allen Bostoner Zeitungen veröffentlicht worden war, sofort und betätigte die Alarmanlage. Fletcher stach ihn nieder, zertrümmerte eine Vitrine, raffte sechs Perlenketten von minderer Qualität und einige billige Ringe zusammen und stürzte aus dem Geschäft. Er wurde von einem Zeitungsfahrer gesehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, Chef, daß die Nachforschungen in Boston gänzlich negativ verliefen. Für einen Mann mit diesem Aussehen muß es doch schwer gewesen sein, nicht aufzufallen.«
»Er wäre vermutlich aufgefallen, wenn er sich hätte sehen lassen«, entgegnete Mr. High. »Aber er hielt sich verborgen. Wie und wo, das wissen wir nicht.«
»In dem Bericht heißt es immer, daß er stach«, sagte Phil. »Er benutzt also immer ein Messer?«
Der Chef blätterte in der Akte. »Die Opfer wiesen jeweils sehr tiefe Wunden auf. Aber
Weitere Kostenlose Bücher