Der Mann im Labyrinth
Eins
Mittlerweile kannte Muller das Labyrinth ziemlich genau. Er wußte um seine Todesfallen, seine Schlingen und Täuschungen, seine Fallgruben. Neun Jahre lebte er jetzt hier. Das war lange genug, um sich zurechtzufinden, und es hatte auch gereicht, sich mit der Situation abzufinden, die ihn dazu gezwungen hatte, im Labyrinth Zuflucht zu suchen.
Er bewegte sich immer noch vorsichtig. Drei- oder viermal hatte er erfahren müssen, daß seine Kenntnis des Labyrinths, obwohl grundlegend und ausreichend, noch nicht ganz vollständig war. Mindestens einmal hatte er am Rand der Vernichtung gestanden, und nur sein unwahrscheinliches Glück hatte ihn im letzten Moment zurückfahren lassen, als völlig unerwartet ein Flammenstrahl vor ihm aufgetaucht war und direkt vor ihm ein Strom reiner Energie den Weg zum Kochen gebracht hatte. Muller hatte diesen Flammenstrahl auf seiner Karte vermerkt, ebenso fünfzig weitere. Als er sich durch das Labyrinth mit den Ausmaßen einer Stadt bewegte, wußte er, daß für ihn keine Garantie bestand, nicht auf eine bisher unerfaßte Falle zu stoßen.
Über ihm verdunkelte sich der Himmel. Das tiefe, volle Grün des Spätnachmittags wich der Schwärze der Nacht. Muller hielt auf seiner Jagd einen Moment inne und sah zu dem Sternhimmel hinauf. Selbst der war ihm nun nicht mehr fremd. In den Jahren auf dieser einsamen Welt hatte er sich seine eigenen Sternbilder zusammengestellt; hatte den Himmel nach auffälligen Konstellationen abgesucht, die zu seiner besonders rauhen und bitteren Stimmung paßten. Und jetzt erschienen sie: der Dolch, der Rücken, der Schaft, der Affe, die Kröte. In der Stirn des Affen flimmerte der kleine, trübe Stern, der, wie Muller glaubte, die Sonne der Erde war. Er war sich jedoch nicht sicher, weil er seinen Kartenbehälter vernichtet hatte, nachdem er hier gelandet war. Aber er spürte, dieser kleine Feuerball dort oben mußte die Sonne sein. Der trübe Stern bildete auch das linke Auge der Kröte. Manchmal sagte sich Muller, Sol könne auf dieser neunzig Lichtjahre von der Erde entfernten Welt gar nicht sichtbar sein. Aber dann war er wiederum fest davon überzeugt. Über der Kröte befand sich eine Konstellation, die Muller Libra, die Waage, genannt hatte. Allerdings war diese Waage, wie so manches, arg aus dem Gleichgewicht geraten.
Drei kleine Monde gingen glitzernd auf. Die Welt besaß eine dünne, aber atembare Atmosphäre. Muller achtete schon lange nicht mehr auf den zu hohen Stickstoff- und den zu geringen Sauerstoffgehalt. Auch der Anteil an Kohlendioxid lag etwas zu niedrig, woraus sich unter anderem der Effekt ergab, daß Muller auf dieser Welt kaum jemals gähnen mußte. Aber darüber machte er sich keine Gedanken. Er umfaßte den Kolben seiner Waffe fester und ging auf der Suche nach seinem Abendessen langsam durch die fremde Stadt. Auch das gehörte zu seinem festgelegten Tagesablauf. Einen halben Kilometer weiter hatte er Nahrungsmittelvorräte für ein halbes Jahr in einem strahlungssicheren Schrank gelagert. Trotzdem ging er jede Nacht auf die Jagd, damit er die Lücken in seinem geheimen Lager immer wieder ergänzen konnte. Darüber hinaus war das ein sinnvoller Zeitvertreib. Und er brauchte ein aufgefülltes Lager für den Tag, an dem das Labyrinth ihn verkrüppeln oder lähmen würde. Seine scharfen Augen suchten die verwinkelten Straßen vor ihm ab. Um ihn herum erhoben sich die Mauern, Blenden, Fallen und Täuschungen des Labyrinths, in dem er lebte. Er atmete tief durch. Jedesmal setzte er einen Fuß fest auf den Boden, bevor er den anderen hob. Er sah sich nach allen Richtungen um. Das dreifache Mondlicht zerlegte und teilte seinen Schatten, spaltete ihn in reduplizierte Abbilder, die vor ihm tanzten und sich ausbreiteten.
Der über seinem linken Ohr angebrachte Massedetektor gab ein hochtöniges Geräusch von sich und sagte Muller damit, daß das Gerät die Körperwärme eines Tieres im Bereich zwischen fünfzig und hundert Kilogramm registriert hatte. Er hatte den Detektor auf drei Größenordnungen programmiert. Bei diesem Tier handelte es sich um eines der mittleren, der Lauftierordnung. Die Bandbreite des Detektors reichte von Wesen ab zehn oder zwanzig Kilogramm – Beißtierordnung – bis zu solchen von über fünfhundert Kilogramm –, die in die Kategorie Riesentiere fielen. Die Kleintiere waren angriffslustig und sprangen einem sofort an die Kehle, die Riesenbiester hingegen trampelten alles kurz und klein. Muller
Weitere Kostenlose Bücher