Historical Band 298
1. KAPITEL
England, im Spätsommer 1388
J a ne glaubte ersticken zu müssen. Die Luft in der Wochenbettkammer war zum Schneiden dick, und das lodernde Feuer, über dem der Kessel mit kochendem Wasser hing, trug noch zur Hitze des Augustmorgens bei. Erschöpft schob sie den dunklen Vorhang vor dem Burgfenster beiseite und schnappte nach frischer Luft.
Sehnsüchtig sah sie hinaus in den Sonnenschein. Ob sie sich später ein Pferd nehmen und ausreiten sollte?
„Jane!“
Hastig ließ sie den Vorhang fallen. „Ja?“ Hatte ihre Mutter sie etwa schon mehrmals gerufen?
„Die Wehe ist vorüber. Solay braucht etwas zu trinken.“
Jane ging zu dem Bassin in der Ecke und füllte einen Becher mit Wasser. Warum hatte sie nicht selbst daran gedacht, ihrer Schwester Wasser zu bringen? Irgendwie fehlte ihr etwas, das anderen Frauen angeboren zu sein schien. Der Instinkt, der ihnen sagte, was zu tun war.
Sie wandte sich zum Bett um, auf dem ihre hochschwangere Schwester lag. Die ganze Nacht über schon kamen die Wehen, und nach jeder blieb Solay weniger Zeit, sich zu erholen. Ihre langen dunklen Haare waren strähnig und glanzlos, die tiefblauen Augen rot gerändert.
Justin, Solays Gatte, raffte den Türvorhang zur Seite, trat aber nicht in die Kammer. „Wie geht es ihr? Kann ich etwas tun?“
Solay öffnete die Augen und wedelte matt mit der Hand. „Fort mit dir. Ich will nicht, dass du mich so siehst.“
Ihre Mutter ging zur Tür. „Geh zurück in den Saal“, meinte sie und gab ihm einen kleinen Schubs. „Spiel mit deinem Bruder Schach.“
Justin rührte sich nicht vom Fleck. „Ist das immer so?“ Jane konnte ihn kaum verstehen, so leise sprach er.
„Als Solay auf die Welt kam, war es ähnlich“, erwiderte ihre Mutter und gab sich keine Mühe, ihre Stimme zu dämpfen. „Sie sagen, es wäre die kürzeste Nacht des Jahres gewesen. Mir kam sie aber vor wie die längste.“
Die Worte sollten ihn wohl beruhigen, aber sie vertrieben nicht die Angst aus seinem Gesicht. „Das geht jetzt schon seit Stunden so!“
„Und es wird noch ein paar Stunden dauern. Das hier ist Frauensache. Wenn du dich nützlich machen willst, dann geh und wecke die Amme. Sie macht ein Nickerchen.“ Die Mutter legte ihm eine Hand auf den Arm und flüsterte: „Und bete zur Heiligen Jungfrau.“
Jane wäre am liebsten mit ihm gegangen und machte unwillkürlich einen Schritt in Richtung Tür. Er war ein Mann und konnte tun, was ihm beliebte. Sie wünschte, sie könnte gehen und die Amme wecken. Oder Schach spielen. Oder in Justins gelehrten Büchern stöbern, was er ihr ziemlich oft erlaubte.
Überall wäre sie jetzt lieber gewesen als hier in dieser Kammer.
„Jane! Wo bleibt das Wasser?“
Sie ging zum Bett und hielt ihrer Schwester den Becher hin. Solay griff danach. Aber weil sie so schwach war, konnte sie ihn nicht richtig greifen und stieß mit der Hand dagegen. Das Wasser durchnässte das Lager, und Solay schrie erschrocken auf.
„Jetzt sieh dir das an!“, herrschte die Mutter Jane an und warf einen besorgten Blick auf Solay.
Und Jane wusste, dass sie wieder einmal alles falsch gemacht hatte.
Sie schnappte sich ein Tuch, um das Wasser aufzuwischen, dabei versetzte sie aber Solays gewölbtem Leib einen Stoß. Die Mutter riss ihr das Tuch aus der Hand. „Leg dich wieder hin, Solay.“ Behutsam tupfte sie das Bettzeug trocken. „Ruh dich aus. Alles wird gut.“
„Ist es wirklich immer so?“, flüsterte Jane, als die Mutter ihr das feuchte Tuch in die Hand drückte.
Die schüttelte den Kopf. „Das Kind kommt zu früh“, antwortete sie leise.
Jane wrang das feuchte Tuch aus und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte Angst, wieder alles falsch zu machen, und wollte nur noch weg. „Ich hole frisches Linnen.“
„Geh nicht fort.“ Solays Stimme überraschte sie. „Sing für mich.“
Ihre Mutter warf ihr einen warnenden Blick zu, bevor sie in den Gang hinaustrat, um nach einer Magd und frischen Tüchern zu sehen.
Jane versuchte die ersten Töne von „Sommer ist kommen“, zu singen, aber sie blieben ihr in der Kehle stecken. Sie warf Solay einen hilflosen Blick zu. „Noch nicht einmal das kann ich.“
„Ärgere dich nicht. Ich möchte einfach nur meine kleine Schwester bei mir haben.“
Solay streckte die Hand aus, und Jane ergriff sie. Sie betrachtete ihre verschlungenen Finger. Die von Solay waren schlank und weiß und zartgliedrig. Wie alles an ihr. Sie war, wie eine Frau sein sollte: schön,
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