Der Mann in Schwarz
Das verräterische Tagebuch
In der Nacht zum 2. Januar 1970 brachen unbekannte Täter durch eine Kellertür in die Lager- und Verkaufsräume der renommierten Parfümerie ,Reichle & Samtegger’ in der Münchner Innenstadt ein. Sie entwendeten teure Parfüms und Essenzen im Wert von mehreren tausend Mark.
Die sofort eingeleiteten Nachforschungen verliefen zunächst ergebnislos, da es weder Fingerabdrücke noch sonstige verwertbare Spuren am Tatort gab. Doch bereits wenige Tage später begann sich der Nebel um den Einbruch zu lichten: Eine ältere Frau erschien auf der Polizei und gab zu Protokoll, dass ihr in der fraglichen Nacht vor dem Geschäft von ,Reichle & Samtegger’ ein junges Paar aufgefallen sei. Sie sagte aus:
„Gegen Mitternacht bin ich noch einmal zum Briefkasten gegangen. Auf dem Hinweg sah ich vor dem Geschäft ein junges Paar stehen. Sie schwiegen und rauchten. Als ich nach ungefähr zwanzig Minuten zurückkam, war nur noch das Mädchen zu sehen. Sie stand inmitten von mehreren Koffern.“
Soweit ihre Aussage. Sie erwähnte noch, dass sie sich nichts weiter dabei gedacht hätte. Erst als sie von der Geschichte in der Zeitung gelesen habe, sei ihr die Erinnerung an den Vorfall in jener Nacht wieder gekommen.
Das, wie gesagt, war der erste Lichtblick im Fall ,Reichle & Samtegger’. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass er sechs Stunden später so gut wie gelöst sein sollte.
Um 15 Uhr nämlich rief ein Kriminalbeamter aus Landshut an und sagte durch, dass man einen jungen Mann aufgegriffen habe, der in einigen Lokalen versucht hatte, teure Parfüms weit unter dem üblichen Preis an den Mann zu bringen. Von einem Mädchen in seiner Begleitung sei allerdings nichts bekannt.
Drei Stunden nach diesem Telefongespräch befand sich der Festgenommene bereits im zuständigen Kommissariat der Landeshauptstadt.
Nach weiteren zwei Stunden Verhör, es war inzwischen 20 Uhr geworden, gab Thomas Bichel den Kampf auf und unterschrieb sein Geständnis. Nur — von einem Mädchen als Komplizin wisse er nichts. Und dabei blieb er auch. Inspektor Kramer zuckte mit den Schultern, gab Anweisung, Bichel ins Untersuchungsgefängnis zu bringen und sagte ,Gute Nacht’.
Am anderen Morgen war der Inspektor früher als üblich im Büro. Bevor sich Kriminalassistent Werder, sein Mitarbeiter, von seiner Überraschung erholt hatte, forderte ihn Kramer auf:
„Kommen Sie, Werder, wir schauen uns mal ein bisschen in Bichels heimatlicher Umgebung um. Ich hab so das Gefühl, als ob wir dabei erfahren könnten, wer seine Komplizin war.“
Thomas Bichel, der in einem Lehrlings- und Gesellenheim wohnte, hatte zwar viele Bekannte, aber wenig Freunde. Trotzdem gelang es den beiden Beamten nach fast dreistündiger Fragerei Name und Adresse eines Mädchens zu erhalten, die angeblich Bichels Freundin war. Ihr Name war Gisela Kampner, und wohnen sollte sie in der Ollendorfer Landstraße 127.
Es war kurz vor Mittag, als Inspektor Kramer und Kriminalassistent Werder an der Tür mit dem Schild KAMPNER klingelten.
Eine Frau im Mantel öffnete: „Bitte, sie wünschen?“, fragte sie, und aus ihren Augen sprach eine Mischung von Ablehnung und Argwohn.
Inspektor Kramer wies sich aus: „Wenn Sie Frau Kampner sind, dann hätten wir Sie gern einmal gesprochen.“
Die Frau nickte und ließ die beiden Männer ein. „Ich war eine Woche verreist und bin gerade erst zurückgekommen...“ Der Argwohn in ihren Blicken war jetzt ernster Sorge gewichen: „Ist was mit meiner Tochter Gisela?“
Der Inspektor antwortete mit einer Gegenfrage: „Ist sie nicht zu Hause?“
Frau Kampner schüttelte den Kopf. Und sie schüttelte ihn noch mehr, als sie erfuhr, unter welchem Verdacht ihre Tochter stand: „Ich kenne keinen Thomas Bichel... und was Sie da sagen, Herr Inspektor... nein, das kann ich einfach nicht glauben... Hier, das lag auf dem Tisch!“ Inspektor Kramer nahm ihr den Zettel aus der Hand und las:
„Liebe Mutti, ich bin zum Einkäufen gegangen. In der Thermosflasche ist heißer Kaffee. Wenn du gern wissen willst, was ich in der Woche gemacht habe, kannst du es in meinem neuen Tagebuch nachlesen. Bis später! Gisela“
Der Inspektor gab den Zettel zurück.
„Seit wann führt Ihre Tochter ein Tagebuch?“
Frau Kampner zuckte mit den Schultern, und es sah ein wenig hilflos aus. „Wissen Sie... eigentlich verstehe ich das gar nicht... Gisela hat nie ein Tagebuch geführt... Es ist das erste Mal. Soll ich es
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