Der Mann mit dem Fagott
dieser Rolle. Schon als Vater war ich ja immer unvollkommen - und durfte es zum Glück auch sein.
Die Rollenbilder in der Gesellschaft haben sich seit meiner eigenen Kindheit mehrmals revolutionär verändert. Vater zu sein hielt für meinen Vater ganz andere Aufgaben bereit als für mich, und für meinen Sohn bedeutet es wieder ein ganz anderes Verständnis. Und Großvater zu sein, das bedeutet gewiß nicht mehr annähernd das gleiche wie in meiner eigenen Kindheit. Hätte mein Großvater Heinrich sich in unserer neuen Zeit zurechtgefunden? Und was wird er seinen Ur-Ur-Enkeln bedeuten? Er wird in ihrem Leben sicher keine wichtige Rolle spielen. Ein paar Photos, ein Name, vielleicht eine geheimnisvolle Geschichte, mehr werden sie nicht mit ihm verbinden. Die Uhr werden meine Enkel zwar kennen, aber kaum noch das Spiel mit dem Klang der Zeit, das mein Großvater mit seinen Söhnen und mein Vater mit uns gespielt hat. Schon meine Kinder haben kaum Erinnerungen an dieses Spiel,
das ich ihnen viel zuwenig nahegebracht habe, beinahe verloren im Strom der Zeit. Traditionen verblassen, werden durch neue ersetzt. Wahrscheinlich ist es gut so.
Die Bockelmannsche Familientradition, Weihnachten und Ostern auf russische Art zu feiern, ist beinahe ausgestorben. Mein Bruder Manfred ist der einzige von uns drei Brüdern, der sie noch hochhält und seiner dreizehnjährigen Tochter Leonie näherbringt. Und obwohl sie ihren Großvater Rudolf Bockelmann niemals kennengelernt hat, liebt sie wie er seit ihrer frühen Kindheit Tschaikowskijs »Schwanensee« und das Ballett. Merkwürdige Gemeinsamkeit von Lebenserfahrungen, durch Generationen und Zeiten getrennt. Es wird etwas ganz Neues daraus entstehen. Das Leben schreitet voran, und das einzig Beständige ist die Veränderung.
Ich beschließe, das Stück zum Lamisch zu Fuß zu gehen, den Weg, den ich auch immer wieder mit meinem Vater gegangen bin, wenn wir etwas zu besprechen hatten und er vorschlug: »Laß uns einen Spaziergang machen.« Hier wurden in Gesprächen wichtige Weichen für mein Leben gestellt.
Vom Waldrand aus, an dem ich entlangspaziere, sind die riesigen Felder zu sehen, die früher zu unserem Gut gehört haben, der Eixendorfer Boden, auf dem ich als Kind Rüben verziehen mußte, aber auch Traktorfahren gelernt habe.
Am Wegesrand die drei Eichen, die mein Vater für uns drei Söhne zu unserer Geburt gepflanzt hat. Inzwischen sind es stattliche Bäume, geprägt von der Zeit, dem Klima, den Kärntner Sommern und den oft harten Wintern. Ich setze mich am Fuße »meines« Baums auf die Wiese, kann von hier aus das ganze Tal überblicken, im Hintergrund die Karawanken. Ein Moment des Zurückgezogenseins von der Welt, ganz wie in meiner Kindheit. Die Sonne steht inzwischen tief, die Schatten sind härter geworden. Am Licht des späten Sommers ahnt man manchmal schon den September.
Wenn ich an all das denke, was ich in meinem Leben erfahren habe, kann ich manchmal kaum begreifen, daß das alles mein Leben gewesen ist und daß es nun bald sieben Jahrzehnte umfassen soll. Die Zahl, die mein Alter mißt, macht mir manchmal angst, flößt mir zumindest Respekt ein. Wieviel Zeit werde ich noch haben, um auch morgen etwas zu bewegen, um ein Leben zu führen, das nach vorne gerichtet ist? Die Perspektive in die Vergangenheit ist um so
vieles länger als jene in die Zukunft. Durch die Sanduhr meines Lebens läuft schon lange nicht mehr Sand, sondern pures Gold.
Wie kann ich mit Mut auf die Zukunft zugehen, ohne jeden Tag als ein Abschiednehmen von der Welt zu empfinden, aber auch ohne mich mit einem peinlichen Festklammern an eine lang vergangene Jugend zu betäuben? Ich bin nicht mehr jung, aber ich fühle mich auch nicht alt, bin des Lebens und der Erfahrungen nicht müde, fühle mich nicht verbraucht oder kraftlos. Wie kann man mit diesem Lebensgefühl mit Würde, Selbstachtung und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber den Stempel negieren, den die Zahl 70 einem aufdrückt? Welchen Rat kann ich mir selbst für die kommende Zeit geben? Sicher nur den, sehr bewußt mit der Zeit als der wichtigsten Ressource in meinem Leben umzugehen, sorgfältig zu planen, welchen Aufgaben ich mich stellen möchte.
Vorbilder dafür gibt es kaum. Früher ist man anders alt geworden. Mein Vater war mit 70 ein alter Mann, von beginnender schwerer Krankheit gezeichnet, ein Mann, der sein Leben gelebt hatte und seine Lebensfreude in großem Maße auf uns Söhne projiziert hat. In meiner Jugend waren
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