Der Mann mit dem Fagott
ihre Geschichte an mir vorbei, tragen mich fort aus Zeit und Raum, vom Hier und Jetzt.
Wie hätte sich mein Leben entwickelt, wenn ich damals in die Zukunft hätte sehen können? Hätte es mich gelassener gemacht? Nervöser? Selbstgerechter? Ruhiger? Ich bin froh darüber, daß man das nicht kann, daß man das Leben nur in der Gegenwart leben kann, jeden einzelnen Tag bestehen muß, daß die Zukunft nur schemenhaft vor einem liegt, undurchschaubar und täglich veränderbar. Bin ich noch derselbe Mensch wie damals? Manchmal scheint es mir, als hätte jedes Lebensjahrzehnt sein eigenes Bewußtsein, seine eigene Selbst- und Weltwahrnehmung, seine eigene Gefühlswirklichkeit. Keine ist besser oder wahrer als die andere,
doch jede hat ihre Zeit. Heute, kurz vor meinem siebzigsten Lebensjahr stehen die Wirklichkeiten der Vergangenheit gleichzeitig vor mir - in Erinnerungen gebannt. Ich kann sie für Momente wieder fühlen und doch nicht ganz in sie eintauchen, kann nicht mehr der sein oder nicht mehr wie derjenige empfinden, der ich vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren oder in meiner Jugend war - ich kann es aber verstehen und für Augenblicke wieder zur Gegenwart machen. Doch ich könnte nicht mehr darin leben.
Welchen Rat würde ich aus heutiger Sicht mir selbst vor dreißig oder vierzig Jahren geben? Ich weiß es nicht. Jede Lebensphase muß mit ganzer Seele durchlebt und auch durchlitten werden. Nichts läßt sich überspringen. Und ich bin gespannt, welche Erfahrungen ich heute, morgen, übermorgen machen werde, welche Wirklichkeit meiner Seele für mich in der restlichen Zeit meines Lebens gelten wird.
Inzwischen bin ich in Ottmanach angekommen, auch hier ein Gast in früheren Zeiten, der Welt meiner Kindheit und Jugend. Ich parke an der Kirche mit dem Friedhof, auf dem meine Eltern begraben liegen, wenige Meter von der Volksschule entfernt, meiner ersten Bewährungsprobe im Leben, an der ich beinahe verzweifelt bin. Gleich daneben Schloß Ottmanach, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Ein zaghafter Blick in den Park, die Allee, die meine Kindheit begleitet hat. Daneben die kleine Mauer, auf der ich immer lag und mich in ferne Welten geträumt habe, die Wiese unter den Bäumen, in deren Schatten ich dem Tanz der Schwalben zusah und für Augenblicke selbst eine Schwalbe war, leicht, frei, unbekümmert der Welt entfloh. Es ist nicht mehr mein Zuhause, und doch überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl leiser Nachdenklichkeit, wenn ich diesen Ort wiedersehe, dessen Grundmauern so unerschütterlich scheinen und mich so lange beschützt haben. Tempi passati.
Mein Vater war viel jünger als ich heute, als er das Schloß verkaufen mußte, ein Gedanke, der meine Vorstellungskraft übersteigt. Lange schon ist mein Vater nicht mehr am Leben, gerade bin ich an der kleinen Aufbahrungshalle vorbeigekommen, in der ich damals von ihm Abschied genommen und ein letztes Mal meinen »Valse Musette« für ihn gespielt habe. Doch für mich liegt er nicht in diesem Grab am kleinen Friedhof hinter mir, sondern er
ist immer noch der Mann in seinen besten Jahren, an den ich mich erinnere, und bis heute frage ich mich an wichtigen Wendepunkten meines Lebens: »Was würde mein Vater mir raten? Wie würde er die Dinge sehen?« Und bin für Momente dann wieder Sohn, ein junger Mann, der sich Rat beim älteren, erfahreneren Vater holt.
Für Augenblicke entfliehe ich damit auch dem kaum zu fassenden Bewußtsein, daß meine Brüder und ich inzwischen selbst die Väter- und Großvätergeneration unserer Familie sind. Ohne es wirklich zu merken, haben wir, während wir unser Leben lebten und immer darauf warteten, es ganz zu durchdringen und zu begreifen, ein Alter erreicht, dessen Zahl wir gar nicht wirklich erfassen können: Mein älterer Bruder Joe ist schon vor zwei Jahren 70 geworden, mir steht das Überschreiten dieser Schwelle im nächsten Jahr bevor, und selbst mein »kleiner« Bruder Manfred hat vor wenigen Wochen die 60 überschritten. Wir haben Kinder, die längst erwachsen sind, ich bin wie mein Bruder Joe Großvater, eine Rolle, die ich für mich noch gar nicht definiert habe.
Früher waren Großväter mächtige Gestalten, Männer, die wußten, wie das Spiel des Lebens zu spielen und zu gewinnen ist, Männer, vor denen selbst unsere starken Väter Respekt hatten, und nun soll ich so jemand sein? Ich schüttle ratlos den Kopf bei dem Gedanken und hoffe, meine Kinder erwarten von mir nicht die fehlerlose Erfüllung
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