Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
waren plötzlich vor ihm gestanden; er mochte in der spät-einsamen Straße einen der Männer gestreift haben, denn seine Gedanken waren zerstreut und mit etwas anderem beschäftigt gewesen, aber diese Gesichter waren schon vorbereitet auf Zorn und traten verzerrt in den Kreis der Laterne. Da hatte er einen Fehler begangen. Er hätte sofort zurückprallen müssen, als fürchte er sich, und dabei fest mit dem Rücken gegen den Kerl stoßen, der hinter ihn getreten war, oder mit dem Ellenbogen gegen seinen Magen, und noch im selben Augenblick trachten müssen, zu entwischen, denn gegen drei starke Männer gibt es kein Kämpfen. Statt dessen hatte er einen Augenblick gezögert. Das machte das Alter; seine zweiunddreißig Jahre; Feindseligkeit und Liebe brauchen da schon etwas mehr Zeit. Er wollte nicht glauben, daß die drei Antlitze, die ihn mit einemmal in der Nacht mit Zorn und Verachtung anblickten, es nur auf sein Geld abgesehen hatten, sondern gab sich dem Gefühl hin, daß da Haß gegen ihn zusammengeströmt und zu Gestalten geworden war; und während die Strolche ihn schon mit gemeinen Worten beschimpften, freute ihn der Gedanke, daß es vielleicht gar keine Strolche seien, sondern Bürger wie er, bloß etwas angetrunken und von Hemmungen befreit, die an seiner vorübergleitenden Erscheinung hängengeblieben waren und einen Haß auf ihn entluden, der für ihn und für jeden fremden Menschen stets vorbereitet ist wie das Gewitter in der Atmosphäre. Denn etwas Ähnliches fühlte auch er mitunter. Ungemein viele Menschen fühlen sich heute in bedauerlichem Gegensatz stehen zu ungemein viel anderen Menschen. Es ist ein Grundzug der Kultur, daß der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste mißtraut, also daß nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält. Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung; ohne den Papst hätte es keinen Luther gegeben und ohne die Heiden keinen Papst, darum ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen in dessen Ablehnung besteht. Das dachte er natürlich nicht so ausführlich; aber er kannte diesen Zustand einer ungewissen, atmosphärischen Feindseligkeit, von dem in unserem Menschenalter die Luft voll ist, und wenn sich das einmal plötzlich in drei unbekannten, nachher wieder auf ewig verschwindenden Männern zusammenzieht, um wie Donner und Blitz auszuschlagen, so ist das fast eine Erleichterung.
Immerhin schien er doch angesichts dreier Strolche etwas zu viel gedacht zu haben. Denn als ihn nun der erste ansprang, flog er zwar zurück, da ihm Ulrich mit einem Schlag aufs Kinn zuvorgekommen war, aber der zweite, der blitzschnell danach hätte erledigt werden müssen, wurde von der Faust nur noch gestreift, denn inzwischen hatte ein Hieb von hinten mit einem schweren Gegenstand Ulrichs Kopf beinahe zersprengt. Er brach ins Knie, wurde angefaßt, kam mit jenem fast unnatürlichen Klarwerden des Körpers, das gewöhnlich dem ersten Zusammenbruch folgt, noch einmal hoch, schlug in die Wirrnis fremder Körper und wurde von immer größer werdenden Fäusten niedergehämmert.
Da nun der Fehler festgestellt war, den er begangen hatte, und nur auf sportlichem Gebiet lag, eben so, wie es vorkommt, daß man einmal zu kurz springt, schlief Ulrich, der noch immer vorzügliche Nerven besaß, ruhig ein, genau mit dem gleichen Entzücken an den entschwebenden Spiralen des Bewußtseinsverfalls, das er im Hintergrunde schon während seiner Niederlage empfunden hatte.
Als er wieder erwachte, überzeugte er sich, daß seine Verletzungen nicht bedeutend waren, und dachte noch einmal über sein Erlebnis nach. Eine Schlägerei hinterläßt immer einen unangenehmen Nachgeschmack, sozusagen von voreiliger Vertraulichkeit, und unabhängig davon, daß er der Angegriffene war, hatte Ulrich das Gefühl, sich unpassend betragen zu haben. Aber unpassend wozu?! Dicht neben den Straßen, wo alle dreihundert Schritte ein Schutzmann den geringsten Verstoß gegen die Ordnung ahndet, liegen andere, die die gleiche Kraft und Gesinnung fordern wie ein Urwald. Die Menschheit erzeugt Bibeln und Gewehre, Tuberkulose und Tuberkulin. Sie ist demokratisch mit Königen und Adel; baut Kirchen und gegen die Kirchen wieder Universitäten; macht Klöster zu
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