Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Frack, glattrasiert und mit einem Scheitel vorzustellen, sondern tun es nach Patriarchenart. Und was ist außer der Religion vorhanden? Die Nation? Der Staat?«
Hier freute sich Diotima, weil Tuzzi gewöhnlich den Staat als eine männliche Angelegenheit behandelte, über die man mit Frauen nicht spricht. Jetzt schwieg er aber und tat nur so in den Augen, als ob darüber doch noch einiges mehr zu sagen wäre.
»Die Wissenschaft?« fragte Arnheim weiter; »die Kultur? Bleibt die Kunst. Wahrhaftig, sie wäre es, die am ersten die Einheit des Daseins und seine innere Ordnung spiegeln müßte. Aber wir kennen doch das Bild, das sie heute bietet. Allgemeine Zerrissenheit; Extreme ohne Zusammenhang. Dem neuen, mechanisierten Gesellschafts- und Gefühlsleben haben bereits im Anfang Stendhal, Balzac und Flaubert die Epopöe geschaffen, das Dämonium der Unterschichten haben Dostojewski, Strindberg und Freud aufgedeckt: wir heute Lebenden haben das tiefe Gefühl, daß in alledem nichts mehr für uns zu tun übrig ist.«
Hier schaltete Sektionschef Tuzzi ein, daß er den Homer vornehme, wenn er etwas Gediegenes lesen wolle, oder den Peter Rosegger.
Arnheim griff die Anregung auf. »Sie müßten noch die Bibel hinzunehmen. Mit Bibel, Homer und Rosegger oder Reuter läßt es sich auskommen! Und da sind wir auch in der innersten Zone des Problems! Angenommen, wir hätten einen neuen Homer: Fragen wir uns mit letzter Aufrichtigkeit, ob wir überhaupt fähig wären, ihm zuzuhören? Ich glaube, wir müssen das verneinen. Wir haben ihn nicht, weil wir ihn nicht brauchen!« Arnheim saß nun im Sattel und ritt. »Wenn wir ihn brauchen würden, würden wir ihn haben! Denn letzten Endes geschieht in der Weltgeschichte nichts Negatives. Was kann es darum bedeuten, daß wir alles wahrhaft Große und Wesentliche in die Vergangenheit verlegen? Homer und Christus sind nicht wieder erreicht, geschweige denn übertroffen worden; es gibt nichts Schöneres als das Hohelied; Gotik und Renaissance stehn vor der Neuzeit wie ein Gebirgsland vor dem Eingang einer Ebene; wo sind heute große Herrschergestalten?! Wie kurzatmig erscheint selbst die Tat Napoleons neben der der Pharaonen, das Werk Kants neben dem Buddhas, das Goethes neben dem Homers! Aber schließlich leben wir und müssen für etwas eben: welchen Schluß haben wir also daraus zu ziehen? Keinen anderen, als daß –« Hier brach Arnheim jedoch ab und versicherte, daß er zaudere, es auszusprechen: denn es bliebe nur der Schluß übrig, daß alles, was man wichtig nehme und für groß halte, nichts mit dem zu tun habe, was die innerste Kraft unseres Lebens sei.
»Und diese wäre?« fragte Sektionschef Tuzzi; dagegen, daß man das meiste viel zu wichtig nehme, hatte er wenig einzuwenden.
»Kein Mensch kann das heute sagen« erwiderte Arnheim. »Die Zivilisationsfrage ist nur mit dem Herzen zu lösen. Durch das Auftreten einer neuen Person. Durch das innere Gesicht und den reinen Willen. Der Verstand hat nichts anderes zuwege gebracht, als die große Vergangenheit bis zum Liberalismus abzuschwächen. Aber vielleicht sehen wir nicht weit genug und rechnen mit zu kleinen Maßen; jeder Augenblick kann der einer Weltwende sein!«
Diotima hatte einwenden wollen, daß dann für die Parallelaktion überhaupt nichts mehr übrig bleibe. Aber merkwürdigerweise wurde sie von Arnheims dunklen Gesichten hingerissen. Vielleicht war ein Rest von »lästigen Lernaufgaben« in ihr zurückgeblieben und beschwerte sie, wenn sie immer wieder die neuesten Bücher lesen und über die neuesten Bilder reden mußte; der Pessimismus der Kunst gegenüber befreite sie von vielen Schönheiten, die ihr im Grunde gar nicht gefallen hatten; jener gegenüber der Wissenschaft erleichterte ihre Angst vor der Zivilisation, dem Übermaß des Wissenswürdigen und Einflußreichen. So war Arnheims hoffnungsloses Urteil über die Zeit für sie eine Wohltat, die sie mit einemmal spürte. Und angenehm fuhr ihr der Gedanke durchs Herz, daß Arnheims Melancholie irgendwie mit ihr zusammenhänge.
50
Weitere Entwicklung. Sektionschef Tuzzi beschließt, sich über die Person Arnheims Klarheit zu verschaffen
DIOTIMA HATTE RECHT geraten. Seit dem Augenblick, wo Arnheim bemerkt hatte, daß der Busen dieser wundervollen Frau, die seine Bücher über die Seele gelesen hatte, von einer Macht gehoben und bewegt wurde, die man nicht mißverstehen konnte, war er einer Verzagtheit verfallen, die ihm sonst fremd war. Um es kurz und nach
Weitere Kostenlose Bücher