Chaosprinz Band 1
1. Kapitel
Von Müttern, verhungernden Kindern, einer Geburtstagskarte und den Plänen des Schicksals
»Afrika?«
»Ostafrika!«
»Dschungel, Affen, Riesenschlangen?«
»In Äthiopien gibt es keinen Dschungel, das ist eine Wüstenlandschaft.«
»Wüste… aber die ist doch so… heiß…!« Kein besonders starkes Argument, ich weiß, aber leider fällt mir im Moment nichts Besseres ein.
»Tobias, Tausende kleine Kinder leben dort in den ärmlichsten Verhältnissen, ohne Nahrung, fließend Wasser oder eine gute medizinische Versorgung und alles, was dir dazu einfällt, ist: In der Wüste ist es so heiß ?« Ma sieht mich mit äußerst vorwurfsvoller Miene an.
»Willst du, dass dürre, kranke Kleinkinder verhungern, nur weil dir zu heiß ist? Willst du das, Tobias, sag schon, willst du das?!«
Ma ist Meisterin im Argumentieren. Ihre Beweisführung ist dermaßen sinnfrei, dass man ihr prinzipiell nie widersprechen kann. Scheiße, das ist fies! Was soll man auf so eine rhetorische Frage antworten?
Ma streicht ihr langes, wallendes Kleid glatt und setzt sich vorsichtig zu mir aufs Bett. Ich mustere den Leinenstoff, auf dem sich rote Blumen um braune Äste ranken, und verdrehe die Augen, als mein Blick an den dicken Holzperlen ihrer langen Halskette hängen bleibt.
»Ma, warum musst du eigentlich immer gleich so maßlos übertreiben?«
»Was denn?« Als sie nach der Kette greift, klappern die vielen, goldenen Armreifen an ihrem Handgelenk geräuschvoll aneinander. »Ich stimme mich nur schon mal auf die Verhältnisse in Äthiopien ein«, erklärt sie und sieht ein bisschen angesäuert aus. »Diese Kleidung trägt man da und ich will mich schließlich so schnell wie möglich einleben.«
»Ma, du weißt gar nicht, was man in Äthiopien trägt. Alles, was du über das Land weißt, hast du aus den Filmen Die weiße Massai und Nirgendwo in Afrika .«
Sie steht unter lautem Klirren der Armreifen auf und funkelt mich beleidigt an. Toll, jetzt ist sie sauer.
»Ich habe mich selbstverständlich sehr ausführlich über Land und Kultur informiert«, zischt sie und reckt das Kinn nach vorne. »Vielleicht weiß ich nicht genau, wie jeder Fluss heißt oder welche Käfer man essen darf und welche nicht, aber eines kann ich dir versichern, Tobias: Diese armen Kinder brauchen Hilfe! Und wenn ich den ganzen Tag nur Wasser schleppen muss, dann habe ich dennoch meinen Beitrag geleistet, um dem schweren Leben dieser kleinen Geschöpfe wenigstens ein bisschen Erleichterung zu verschaffen.«
Sie hat die Tür erreicht, greift nach der Klinke und dreht sich noch ein letztes Mal zu mir um, bevor sie wie ein Wirbelwind aus dem Zimmer stürmt.
»Schön, dass du so an mich glaubst!«
Und Schluss! Der Vorhang fällt, die Menge tobt. Was für ein Abgang!
Seufzend lasse ich mich zurück aufs Bett fallen und starre an die Decke. Ein uralter Snoopy -Aufkleber grinst zu mir herunter. Seit drei Jahren versuche ich nun schon erfolglos, diesen doofen Sticker von seinem Platz zu entfernen. Als Zwölfjähriger kommt man auf bescheuerte Ideen. Man klebt Sticker an Holzdecken und fünf Jahre später beißt man sich dann dafür in den Arsch.
Ich wende den Blick von Snoopy ab und denke wieder an meine Mutter und ihren phänomenalen Abgang. Sie hat es echt drauf. Ich glaube, ich habe sogar gehört, wie ihre immer leiser werdende Stimme zu zittern angefangen hat. Einfach nur herzzerreißend.
Anna Ullmann! Es gibt keinen Menschen auf der Welt, den ich so sehr liebe wie sie. Sie ist einfach wunderbar. So lebensfroh, neugierig, leidenschaftlich und liebevoll. Ich bin verrückt nach ihr.
Bei meiner Geburt war sie 21 Jahre alt. Eine junge Studentin, die sich Hals über Kopf in einen gutaussehnenden Bankkaufmann verliebte. Zu Beginn der Beziehung waren die charakterlichen Unterschiede noch reizvoll und aufregend, aber im Würgegriff des Alltags verlor sich der Charme des Unbekannten schnell. Nach nur drei Jahren mussten sie sich ihren Differenzen geschlagen geben.
Ich bin bei Ma geblieben. Meinen Vater hab ich nur sporadisch gesehen. Am Anfang holte er mich noch jedes Wochenende zu sich, dann wurden die Abstände größer und nachdem er schließlich nach München gezogen ist, hat er sich immer seltener gemeldet. Seit fünf Jahren besteht der einzige Kontakt aus einer Glückwunschkarte, die ich einmal im Jahr am Morgen meines Geburtstags im Briefkasten finde.
Ich habe mich damit abgefunden. Ma und ich haben alles im Griff. Unser Leben ist toll, bunt
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