Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Sitte und Literatur eingeredet wird, in dem Vorurteil befangen, daß sie durch ihre Leidenschaften, Charaktere, Schicksale und Handlungen voneinander abhingen. In Wahrheit besteht aber natürlich das Dasein mehr als zur Hälfte nicht aus Handlungen, sondern aus Abhandlungen, deren Meinung man in sich aufnimmt, aus Dafürhalten mit entgegensprechendem Dagegenhalten und aus der aufgestapelten Unpersönlichkeit dessen, was man gehört hat und weiß. Das Schicksal dieser beiden Gatten hing zum größern Teil von einer trüben, zähen, ungeordneten Schichtung von Gedanken ab, die gar nicht ihrer, sondern der öffentlichen Meinung angehörten und sich mit dieser verändert hatten, ohne daß sie sich davor bewahren konnten. Neben dieser Abhängigkeit war die persönliche von einander nur ein winziger Teil, ein irrsinnig überschätzter Rückstand. Und während sie sich einredeten, ein Privatleben zu haben, und gegenseitig ihren Charakter und Willen in Frage stellten, lag die verzweifelte Schwierigkeit in der Unwirklichkeit dieses Streites, die sie durch alle möglichen Verdrießlichkeiten verdeckten.
Es war das Unglück Leo Fischels, daß er weder Karten spielte, noch Vergnügen daran fand, hübsche Mädchen auszuführen, sondern, ermüdet von seinem Dienst, an einem ausgeprägten Familiensinn litt, wogegen seine Gattin, die nichts zu tun hatte, als Tag und Nacht den Schoß dieser Familie zu bilden, durch keinerlei romantische Vorstellungen davon mehr beirrt wurde. Es befiel Leo Fischel manchmal ein Erstickungsgefühl, das, nirgends greifbar, von allen Seiten auf ihn eindrang. Er war eine tüchtige kleine Zelle im sozialen Körper, die brav ihre Pflicht tat, aber von überall vergiftete Säfte erhielt. Und obgleich das weit über seinen Bedarf an Philosophie hinausging, so begann er, von seiner Lebensgefährtin im Stich gelassen, als alternder Mensch, der keinen Grund einsah, von der vernünftigen Mode seiner Jugend abzulassen, die tiefe Nichtigkeit des seelischen Lebens zu ahnen, seine Gestaltlosigkeit, die ewig die Gestalten wechselt, die langsame, aber ruhelose Umwälzung, die immer alles mit sich dreht.
An einem solchen Morgen, wo sein Denken durch Familienfragen beansprucht war, hatte Fischel vergessen, die Zuschrift Sr. Erlaucht zu beantworten, und an vielen folgenden Morgen bekam er Schilderungen von den Vorgängen im Kreise der Sektionschefsgattin Tuzzi, die es sehr bedauerlich erscheinen ließen, daß eine solche Gelegenheit für Gerda, in die beste Gesellschaft zu kommen, nicht wahrgenommen worden sei. Fischel selbst hatte kein ganz reines Gewissen, da ja doch sein eigener Generaldirektor und der Gouverneur der Staatsbank hingingen, aber bekanntlich weist man Vorwürfe umso heftiger zurück, je stärker man selbst zwischen Schuld und Unschuld gespannt ist. Aber jedesmal, wenn Fischel sich mit der Überlegenheit des schaffenden Mannes über diese patriotische Angelegenheit lustig zu machen suchte, wurde ihm erklärt, daß ein auf der Zeithöhe stehender Finanzmann wie Paul Arnheim eben schon anders denke. Es war zum Staunen, wie viel Klementine und auch Gerda – die ansonsten den Wünschen ihrer Mutter natürlich widersprach – von diesem Manne in Erfahrung gebracht hatten, und da man auch auf der Börse mancherlei Verwunderliches von ihm redete, so fühlte sich Fischel in die Verteidigung gedrängt, denn er konnte einfach nicht mit und vermochte auch nicht, von einem Mann mit solchen Geschäftsverbindungen zu behaupten, daß man ihn nicht ernst nehmen dürfe.
Wenn Fischel sich aber in die Verteidigung gedrängt fühlte, so nahm das sachgemäß die Form der Kontermine an, das heißt, er schwieg so undurchsichtig wie möglich zu allen Anspielungen, die sich auf das Haus Tuzzi, Arnheim, die Parallelaktion und sein eigenes Versagen bezogen, zog Erkundigungen über den Aufenthalt Arnheims ein und wartete heimlich auf ein Ereignis, das die innere Hohlheit von alledem mit einem Schlage offenbaren und den hohen Familienkurs dieser Angelegenheit zerschmettern sollte.
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Sektionschef Tuzzi stellt eine Lücke im Betrieb seines Ministeriums fest
SEKTIONSCHEF TUZZI hatte nach seinem Entschluß, Klarheit um die Person Dr. Arnheims zu schaffen, bald die Genugtuung, im Aufbau des seine Sorge bildenden Ministeriums des Äußern und des Kaiserlichen Hauses eine wesentliche Lücke zu entdecken: es war auf Personen wie Arnheim nicht eingerichtet. Er selbst las von schöngeistigen Büchern, außer Memoirenwerken nur die
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