1270 - Belials Liebling
Es war nicht viel los in dieser Nacht. Das Gemurmel der zahlreichen Gäste aus den großen Räumen war längst Erinnerung. Es würde wieder einsetzen, wenn die Autobahn befahren wurde und die Autofahrer den ersten Hunger oder Durst verspürten.
Tino Caresi gähnte. Er dachte daran, dass seine Schicht in etwas mehr als zwei Stunden vorbei war, aber diese Zeit würde sich hinziehen, das kannte er. Gerade die letzten Stunden waren die längsten, doch dagegen gab es ebenfalls Mittel.
Zum einen konnte er lesen, zum anderen war es nicht schlecht, ein Nickerchen zu machen.
Tino hatte die Toilette gesäubert, den Waschraum ebenfalls. Er hatte für neue Seife gesorgt und auch für frisches Toilettenpapier.
Mehr aus Zeitvertreib wischte er über die Kacheln hinweg und sah sich dabei immer wieder in den Spiegelflächen. Er wurde älter. Das Haar hatte einen Graustich bekommen, seine Haut sah müde aus. Die ersten Falten konnten einfach nicht übersehen werden, und das ärgerte Tino.
Aber so war das Leben. Und sein Leben spielte sich zum Großteil dort ab, wo andere ihre Notdurft verrichteten. Es war auch nicht weiter tragisch. In jedem Job gab es Ärger. Er sah sich sogar noch als privilegiert an, denn es gab keinen Chef, der ihn beaufsichtigte.
So ließ sich auch, die Zeit auf der Toilette ertragen. Er war mit seiner Säuberung zufrieden. Auch Luisa würde es sein. Es war die Frau, die am Tag Dienst tat und mit Tino entfernt verwandt war.
Er ging wieder zurück in den Vorraum und wollte eine rauchen. Der Griff in die Kitteltasche, das.
Fassen nach der Schachtel - und das Anhalten. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er war nicht mehr allein, obwohl er niemanden sah.
Caresi hatte etwas gehört. Allerdings mehr im Unterbewusstsein. Keine harten und schnellen Schritte, doch es war etwas da. Auf dem Gang, in den er noch nicht hineinschaute.
Über seinen Rücken rieselte ein kalter Schauer, wie von der Hand eines Toten hinterlassen. Tino sah davon ab, eine zu rauchen und wollte zunächst nachschauen, was sich auf dem Flur abspielte.
Den Laut oder das Geräusch hatte er nicht identifizieren können. Beides war einfach da gewesen, und er schlich zur Tür, um in den Gang zu schauen.
An einen Überfall dachte er auch, aber der Gedanke lag etwas tiefer in ihm verborgen. Man hatte mal versucht, ihn zu überfallen. Zwei Junkies, die so fertig gewesen waren, dass sie kaum auf den eigenen Beinen hatten stehen können. Er war mit ihnen fertig geworden, ohne selbst etwas abbekommen zu haben.
Und jetzt?
In den Gang gehen, nachschauen und handeln. Oder auch nicht, falls nichts passiert war.
Er lauschte…
Es war nichts mehr zu hören, doch darauf wollte sich Tino nicht verlassen, und so ging er einen langen Schritt nach vorn, erreichte die Tür und schaute hinaus.
Nein!
Es war ein Ruf, der in seinem Kopf aufdröhnte. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit dem Bild, das er sah, als er den Kopf nach rechts drehte.
Im Flur stand völlig allein und mit einer Puppe im Arm ein Kind!
***
Es war kein Schock, den der Toilettenmann überwinden musste, sondern nur seine Überraschung, denn in all den Jahren seines Berufslebens hatte er so etwas noch nicht erlebt. Er war sich nicht mal sicher, ob es das Kind überhaupt gab, und er musste zunächst über seine Augen streichen und zwinkern, ob es das Bild tatsächlich gab.
Ja, es blieb!
Die Kleine mit den blonden Haaren stand einfach im Flur, etwa in der Mitte zwischen der Treppe und den Toilettenräumen. Sie trug ein orangefarbenes Kleid, hielt ihre Puppe fest, hatte ein rundes, niedliches Gesicht und schaute Tino an.
Sie wirkte nicht ängstlich. Nicht einmal zu fremd in dieser Umgebung, obwohl sie ein Fremdkörper war. Die großen Augen standen weit offen, und aus ihnen schaute sie den Toilettenmann an.
Tino überlegte verzweifelt, was er sagen sollte. Er konnte das Mädchen nicht einfach so im Gang stehen lassen. Er musste es fragen, was es wollte. Klar, wer hier herunter kam, der hatte ein menschliches Bedürfnis. Komischerweise traute er dieses der Kleinen nicht zu. Sie machte ihm irgendwie einen anderen Eindruck. Allerdings nicht den eines verlaufenen Kindes, sondern eines Mädchens, das seinen Weg bis zu einem bestimmten Ziel gefunden hatte.
Wie sollte er die Kleine ansprechen? Tino war nicht auf den Kopf gefallen. Er konnte sich gut mit Worten ausdrücken: In diesem Fall war er überfragt. Alles, was ihm in den Sinn kam, das passte ihm nicht und
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