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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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sie zu jener Zeit angemessener, denn sie stellten noch in lebendigem Zusammenhang die tadellose Geschlossenheit und strenge Zurückhaltung nach außen dar, die als Zeichen des Mannes von Welt galt. Die wasserhelle Aufrichtigkeit, sich nackt zur Schau zu stellen, würde selbst einem Menschen, der wenig Vorurteile hatte und in der Würdigung des entkleideten Leibes von keinerlei Scham behindert wurde, damals als ein Rückfall ins Tierische erschienen sein, nicht wegen der Nacktheit, sondern wegen des Verzichtes auf das zivilisierte Liebesmittel der Bekleidung. Ja eigentlich hätte man zu jener Zeit wohl gesagt, unter das Tierische; denn ein dreijähriges Pferd von guter Zucht und ein spielender Windhund sind viel ausdrucksvoller in ihrer Nacktheit, als es ein menschlicher Leib erreichen kann. Dagegen können sie keine Kleider tragen; sie haben nur eine Haut, die Menschen aber hatten damals noch viele Häute. Mit dem großen Kleid, seinen Rüschen, Puffen, Glocken, Glockenfällen, Spitzen und Raffungen hatten sie sich eine Oberfläche geschaffen, die fünfmal so groß war wie die ursprüngliche und einen faltenreichen, schwer zugänglichen, mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiße Tier verbarg, das sich suchen ließ und fürchterlich begehrenswert machte. Es war das vorgezeichnete Verfahren, das die Natur selbst anwendet, wenn sie ihre Geschöpfe Bälge sträuben oder Wolken von Dunkelheit ausspritzen heißt, um in Liebe und Schreck die nüchternen Vorgänge, auf die es dabei ankommt, bis zur unirdischen Torheit zu steigern.
    Diotima fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben von diesem Spiel, wenn auch in dezentester Weise, tiefer berührt. Koketterie war ihr nicht fremd, denn sie gehörte zu den gesellschaftlichen Aufgaben, die eine Dame beherrschen muß; auch war es ihr nie entgangen, wenn die Blicke junger Männer dabei etwas anderes als Ehrfurcht für sie ausdrückten, ja sie hatte das sogar gern, weil es sie die Macht sanfter weiblicher Zurechtweisung fühlen ließ, wenn sie den wie die Hörner eines Stiers auf sie gerichteten Blick eines Mannes zwang, sich idealen Ablenkungen zuzuwenden, die ihr Mund äußerte. Aber Ulrich, gedeckt durch die verwandtschaftliche Nähe und die Selbstlosigkeit seiner Mithilfe an der Parallelaktion, beschützt auch durch das zu seinen Gunsten errichtete Kodizill, erlaubte sich Freiheiten, die das verästelte Geflecht ihres Idealismus senkrecht durchdrangen. So war es einmal bei einer Ausfahrt über Land vorgekommen, daß der Wagen an entzückenden Tälern vorbeirollte, zwischen denen von dunklen Fichtenwäldern bedeckte Berghänge nahe an die Straße herantraten, und Diotima mit den Versen »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben…?« darauf hindeutete; sie zitierte diese Verse selbstverständlich als Gedicht, ohne den dazugehörigen Gesang auch nur anzudeuten, denn das wäre ihr verbraucht und nichtssagend erschienen. Aber Ulrich erwiderte: »Die Niederösterreichische Bodenbank. Das wissen Sie nicht, Kusine, daß alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ein bei ihr angestellter Forstmeister. Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie, ein reihenweise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.« Von dieser Art waren sehr oft seine Antworten. Wenn sie von Schönheit sprach, sprach er von einem Fettgewebe, das die Haut stützt. Wenn sie von Liebe sprach, sprach er von der Jahreskurve, die das automatische Steigen und Sinken der Geburtenziffer anzeigt. Wenn sie von den großen Gestalten der Kunst sprach, fing er mit der Kette der Entlehnungen an, die diese Gestalten untereinander verbindet. Es kam eigentlich immer so, daß Diotima zu sprechen begann, als ob Gott den Menschen am siebenten Tag als Perle in die Weltmuschel hineingesetzt hätte, worauf er daran erinnerte, daß der Mensch ein Häuflein von Pünktchen auf der äußersten Rinde eines Zwergglobus sei. Es war nicht ganz einfach zu durchschauen, was Ulrich damit wollte; offenbar galt es jener Sphäre des Großen, der sie sich verbunden fühlte, und Diotima empfand es vor allem als kränkende Besserwisserei. Sie konnte nicht vertragen, daß ihr Vetter, der nun einmal für sie ein Schreckenskind war, etwas besser wissen wolle als sie, und seine materialistischen Einwände, von denen sie nichts verstand, weil er sie aus der niederen Zivilisation des

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