Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
getrennt, keineswegs ganz eins; jedenfalls der äußerste Gegensatz zu einer würdigen und strengen Beziehung.«
Aber Ulrich irrte. Diotima gehörte zu den Menschen, die mit sich zufrieden sind und darum ihre Altersstufen wie eine Treppe ansehen, die von unten nach oben führt. Was Ulrich sagte, war ihr also gänzlich unverständlich, zumal da sie ja das nicht wußte, was zu sagen er unterlassen hatte; aber sie waren mittlerweile beim Wagen angelangt, so daß sie sich ruhig fühlte und nun seine Rede wieder als das ihr bekannte, zwischen Unterhaltung und Ärgernis schwankende Gerede hinnahm, dem sie nicht mehr als einen Augenwinkel schenkte. Er hatte in Wahrheit in diesem Augenblick ganz und gar keinen Einfluß auf sie, außer dem der Ernüchterung. Eine zarte Wolke von Befangenheit, aufgestiegen aus irgendeinem Winkel ihres Herzens, hatte sich in trockene Leere aufgelöst. Vielleicht zum erstenmal erblickte sie klar und hart die Tatsache, daß ihre Beziehungen zu Arnheim sie über kurz oder lang vor eine Entscheidung stellen mußten, die ihr ganzes Leben verändern konnte. Man hätte nicht sagen können, daß sie das jetzt glücklich machte; aber es hatte die Schwere eines wirklich dastehenden Gebirges. Eine Schwäche war vorbei. Jenes »Nicht tun, was man möchte« hatte für einen Augenblick einen ganz unsinnigen Glanz gehabt, den sie nicht mehr begriff.
»Arnheim ist ganz und gar das Gegenteil von mir; er überschätzt das Glück, das Zeit und Raum haben, wenn sie mit ihm zum gegenwärtigen Augenblick zusammentreffen, beständig!« seufzte Ulrich lächelnd, in dem ordentlichen Bedürfnis, was er geäußert hatte, zu einem Ende zu führen; aber von der Kindheit sprach auch er nicht mehr, und so kam es nicht dazu, daß ihn Diotima als gefühlvoll kennen lernte.
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Clarisse besucht Ulrich, um ihm eine Geschichte zu erzählen
DIE NEUEINRICHTUNG alter Schlösser bildete die besondere Fähigkeit des bekannten Malers van Helmond, dessen genialstes Werk seine Tochter Clarisse war, und eines Tags trat diese unerwartet bei Ulrich ein.
»Papa schickt mich,« teilte sie mit »ich soll nachsehn, ob du deine großartigen aristokratischen Beziehungen nicht auch ein wenig für ihn ausnützen könntest!« Sie sah sich neugierig im Zimmer um, warf sich in einen Stuhl und ihren Hut auf einen anderen. Dann reichte sie Ulrich die Hand.
»Dein Papa überschätzt mich« wollte er sagen, aber sie schnitt ihm das Wort ab.
»Ach, Unsinn! Du weißt doch, der Alte braucht immer Geld. Das Geschäft geht nicht mehr so wie früher!« Sie lachte. »Sehr elegant hast du's. Hübsch!« Sie musterte abermals die Umgebung und sah dann Ulrich an; ihre ganze Haltung hatte etwas von der liebenswürdigen Unsicherheit eines Hündchens, das sein böses Gewissen im Fell juckt. »Na!« sagte sie. »Also wenn du kannst, wirst du's tun! Wenn nicht, dann nicht! Ich hab es ihm natürlich versprochen. Aber ich bin aus einem anderen Grund gekommen; er hat mich mit seinem Anliegen auf eine Idee gebracht. Bei uns liegt nämlich etwas in der Familie. Ich möchte einmal hören, was du dazu sagst.« Mund und Augen zögerten und zuckten einen Augenblick, dann setzte sie mit einem Ruck über das Anfangshindernis. »Kannst du dir etwas vorstellen, wenn ich Schönheitsarzt sage? Ein Maler ist ein Schönheitsarzt.«
Ulrich begriff; er kannte das Haus ihrer Eltern.
»Also dunkel, vornehm, prächtig, üppig, gepolstert, bewimpelt und bewedelt!« fuhr sie fort. »Papa ist Maler, der Maler ist eine Art Schönheitsarzt, und mit uns zu verkehren, hat in der Gesellschaft immer für ebenso schick gegolten wie eine Badereise anzutreten. Du verstehst. Und eine Haupteinnahme Papas bildet seit je die Einrichtung von Palästen und Landschlössern. Du kennst die Pachhofens?«
Das war eine Patrizierfamilie, aber Ulrich kannte sie nicht; bloß ein Fräulein Pachhofen hatte er vor Jahren in Clarissens Gesellschaft einmal angetroffen.
»Das war meine Freundin« erklärte Clarisse. »Sie war damals siebzehn und ich fünfzehn; Papa sollte das Schloß einrichten und umbaun.«
»? Nun ja, natürlich, das Pachhofensche. Wir waren alle eingeladen. Auch Walter war zum erstenmal mit uns. Und Meingast.«
»Meingast?« Ulrich wußte nicht, wer Meingast sei.
»Aber ja, du kennst ihn doch auch; Meingast, der dann in die Schweiz gegangen ist. Damals war er noch nicht Philosoph, sondern Hahn in allen Familien, die Töchter hatten.«
»Ich habe ihn nie persönlich gekannt;« stellte
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