Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Ulrich fest »aber jetzt weiß ich wohl, wer er ist.«
»Also gut,« Clarisse rechnete angestrengt im Kopf »warte: Walter war damals dreiundzwanzig Jahre alt und Meingast etwas älter. Ich glaube, Walter hat im geheimen mächtig Papa bewundert. Er war zum erstenmal auf einem Schloß eingeladen. Papa hatte oft so etwas wie einen inneren Königsmantel. Ich glaube, Walter war anfangs mehr in Papa verliebt als in mich. Und Lucy –«
»Um Gotteswillen, langsam, Clarisse!« bat Ulrich. »Ichglaube, ich habe den Zusammenhang verloren.«
»Lucy« sagte Clarisse »ist doch Fräulein Pachhofen, die Tochter der Pachhofens, bei denen wir alle eingeladen waren. Verstehst du es jetzt? Also nun verstehst du; wenn Papa Lucy in Samt oder Brokat wickelte und mit einer langen Schleppe auf eins ihrer Pferde setzte, so bildete sie sich ein, er sei ein Tizian oder ein Tintoretto. Sie waren ganz ineinander verschossen.«
»Also Papa in Lucy, und Walter in Papa?«
»So warte doch nur! Damals gab es den Impressionismus. Papa malte altmodisch-musikalisch, wie er es noch heute tut, braune Soße mit Pfauenschwänzen. Aber Walter war für freie Luft, klarlinige englische Gebrauchsformen, das Neue und Ehrliche. Papa mochte ihn insgeheim so wenig ausstehen wie eine protestantische Predigt; er mochte übrigens auch Meingast nicht ausstehen, aber er hatte zwei Töchter zu verheiraten, hatte immer mehr Geld ausgegeben als eingenommen und war duldsam gegen die Seele der zwei jungen Männer. Walter dagegen liebte heimlich Papa, das habe ich schon gesagt; aber er mußte ihn öffentlich verachten ‚wegen der neuen Kunstrichtung, und Lucy hat überhaupt nie etwas von Kunst verstanden, aber sie hatte Angst, sich vor Walter zu blamieren, und befürchtete, daß Papa, wenn Walter recht behalte, bloß als ein komischer alter Mann erscheinen würde. Bist du jetzt im Bild?«
Ulrich wollte zu diesem Zweck noch wissen, wo Mama gewesen sei.
»Mama war natürlich auch da. Sie stritten wie immer alle Tage, nicht mehr und nicht weniger. Du verstehst, daß unter diesen Umständen Walter eine begünstigte Position hatte. Er wurde eine Art Schnittpunkt von uns allen, Papa fürchtete sich vor ihm, Mama hetzte ihn auf, und ich fing an, mich in ihn zu verlieben. Lucy aber tat ihm schön. So hatte Walter eine gewisse Macht über Papa, und er begann, sie mit vorsichtiger Wollust auszukosten. Ich meine, damals ist ihm seine eigene Bedeutung aufgegangen; ohne Papa und mich wäre er nichts geworden. Verstehst du diese Zusammenhänge?«
Ulrich glaubte diese Frage bejahen zu können.
»Aber ich wollte etwas anderes erzählen!« versicherte Clarisse. Sie überlegte und sagte nach einer Weile: »Warte! Denk zunächst nur an mich und Lucy: Das war ein aufregend verworrenes Verhältnis! Ich habe natürlich Angst um Vater gehabt, der in seiner Verliebtheit Miene machte, die ganze Familie zu ruinieren. Und dabei wollte ich doch natürlich auch wissen, wie so etwas eigentlich vor sich geht. Sie waren beide ganz toll. In Lucy mischte sich selbstverständlich die Freundschaft für mich mit dem Gefühl, daß sie den Mann zum Geliebten hatte, zu dem ich noch gehorsam Papa sagen mußte. Sie bildete sich nicht wenig darauf ein, aber schämte sich auch heftig vor mir. Ich glaube, das alte Schloß hatte seit seiner Erbauung noch keine solchen Komplikationen beherbergt! Den ganzen Tag über trieb sich Lucy, wo sie nur konnte, mit Papa herum, und nachts kam sie zu mir in den Turm beichten. Ich schlief nämlich im Turm, und wir brannten fast die ganze Nacht Licht.«
»Wie weit hat sich denn Lucy mit deinem Vater eingelassen?«
»Das war das einzige, was ich nie erfahren konnte. Aber denk dir solche Sommernächte! Die Eulen haben gewimmert, die Nacht hat gestöhnt, und wenn es uns zu unheimlich wurde, haben wir uns beide in mein Bett gelegt, um dort weiter zu erzählen. Wir konnten uns die Sache nicht anders vorstellen, als daß ein Mann, den eine so unselige Leidenschaft erfaßt hat, sich erschießen müsse. Eigentlich warteten wir alle Tage darauf –«
»Ich habe doch den Eindruck,« unterbrach Ulrich »daß zwischen ihnen nicht viel vorgefallen war.«
»Ich glaube auch: nicht alles. Aber doch manches. Du wirst gleich sehen. Lucy hat nämlich plötzlich das Schloß verlassen müssen, weil ihr Vater unerwartet ankam und sie zu einer Spanienreise abholte. Da hättest du nun Papa sehen sollen, wie er allein blieb! Ich glaube, es fehlte manchmal nicht viel dazu; daß er Mama erwürgt
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