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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ein Busch an einem Flußknie stand, das Kreischen eines Schöpfbrunnens, Bruchstücke durcheinandergeratender Gegenden, ein endloser Vorrat an Erinnerungen, von denen er gar nicht gewußt hatte, daß sie ihm ihrerzeit gefällig gewesen waren. Und er träumte: »Ich könnte ihnen etwas erzählen!« Wie ein junger Mensch träumt. Und den hatte man so oft eingesperrt, daß er nie alt wurde. »Das nächste Mal werde ich mir das genauer anschauen müssen,« dachte Moosbrugger »sonst verstehen sie mich ja doch nicht!« Und dann lächelte er streng und sprach wie ein Vater über sich mit den Richtern, der von seinem Sohn sagt: er taugt nichts, sperrt ihn nur tüchtig ein, vielleicht nimmt er sich dann zusammen!
    Natürlich ärgerte er sich jetzt zuweilen über die Anordnungen im Gefängnis. Oder es tat ihm etwas weh. Aber dann konnte er sich dem Gefängnisarzt vorführen lassen oder dem Direktor, und so kam alles doch wieder in eine gewisse Ordnung und Ruhe, wie das Wasser über einer toten Ratte, die hineingefallen ist. Freilich stellte er sich das nicht gerade unter diesem Bild vor; aber einen Eindruck, wie ein großes, spiegelndes Wasser ausgebreitet zu sein, das durch nichts zu stören ist, den hatte er jetzt fast immer, wenn er auch die Worte dafür nicht hatte.
    Die Worte, die er hatte, waren: – Hmhm, soso.
    Der Tisch war Moosbrugger.
    Der Stuhl war Moosbrugger.
    Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst.
    Er meinte das keineswegs verrückt und ungewöhnlich. Die Gummibänder waren einfach weg. Hinter jedem Ding oder Geschöpf, wenn es einem anderen ganz nah kommen möchte, ist ein Gummiband, das sich spannt. Sonst könnten ja auch am Ende die Dinge durch einander hindurchgehen. Und in jeder Bewegung ist ein Gummiband, das einen nie ganz das tun läßt, was man möchte. Diese Gummibänder waren nun mit einemmal fort. Oder war es bloß das hinderliche Gefühl wie von Gummibändern?
    Das kann man wohl nicht so genau unterscheiden? »Zum Beispiel, Frauen halten ihre Strümpfe mit Gummibändern. Da hat man's!« – dachte Moosbrugger. »Sie tragen wie ein Amulett Gummibänder ums Bein. Unter den Kitteln. Wie die Ringe, mit denen man die Obstbäume beschmiert, damit die Würmer nicht hinaufsteigen.«
    Aber das sei nur nebenbei erwähnt. Damit man nicht glaube, Moosbrugger hätte das Bedürfnis gehabt, zu allem Bruder zu sagen. So war er nun nicht gerade. Er war bloß innen und außen.
    Er beherrschte jetzt alles und herrschte es an. Er brachte alles in Ordnung, ehe man ihn tötete. Er konnte denken, woran er wollte, augenblicklich war es so fügsam wie ein gut erzogener Hund, zu dem man »Kusch!« sagt. Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht.
    Pünktlich kam die Suppe. Pünktlich wurde er geweckt und spazierengeführt. Alles in der Zelle war pünktlich streng und unverrückbar. Das kam ihm manchmal ganz unglaublich vor. In einer merkwürdigen Umkehrung hatte er den Eindruck, diese Ordnung gehe von ihm aus, obwohl er wußte, daß sie ihm auferlegt war.
    Andere Leute haben solche Erlebnisse, wenn sie im Sommerschatten einer Hecke liegen, die Bienen summen, die Sonne klein und hart durch den milchhellen Himmel zieht; die Welt dreht sich dann wie ein mechanisches Spielwerk um solche Leute. In Moosbrugger besorgte das schon der geometrische Anblick, den ihm seine Zelle bot.
    Er bemerkte dabei, daß er sich wie verrückt nach gutem Essen sehnte; er träumte davon, und bei Tag lagen die Umrisse eines guten Tellers Schweinsbraten mit fast unheimlicher Beständigkeit vor seinem Auge, sobald sein Geist von anderen Beschäftigungen zurückkehrte. »Zwei Teller!« befahl Moosbrugger dann. »Oder drei!« Er dachte es so stark und die Vorstellung gierig vergrößernd, daß ihm augenblicklich voll und übel wurde, er überfraß sich im Gedanken. »Warum« überlegte er kopfwiegend »folgt so schnell auf daß man essen möchte, daß man schon zu platzen glaubt?« Zwischen Essen und Platzen liegen alle Genüsse der Welt; ach, was für eine Welt, man könnte an hundert Beispielen nachweisen, wie schmal dieser Raum ist! Nur eines davon: Eine Frau, die man nicht hat, ist so, wie wenn der Mond nachts immer höher steigt und saugt und saugt am Herzen; wenn man sie aber gehabt hat, möchte man mit dem Stiefel in ihrem Gesicht herumtreten. Warum ist das so? Er erinnerte sich, daß er oft danach gefragt worden war. Also man konnte antworten, Frauen sind Frauen und Männer; weil die ihnen

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