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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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nachrennen. Aber auch das wollten die, die ihn fragten, nie recht verstehn. Sie wollten wissen, warum er sich einbilde, daß die Leute gegen ihn verschworen seien. Als ob nicht sogar sein eigener Körper mit ihnen konspiriert hätte! Bei Frauen ist das ja ganz klar. Aber auch mit Männern verstand sich sein Körper besser als er selbst; ein Wort gibt das andere, man weiß, was sich gehört, man dreht sich den ganzen Tag einer um den anderen, und im Nu ist man über den schmalen Streif hinaus, wo man ungefährlich miteinander verkehrt: wenn ihm das aber sein Körper zugezogen hatte, dann sollte er ihn nur auch davon befreien! Soweit sich Moosbrugger erinnerte, war er ärgerlich gewesen oder hatte Furcht gehabt, und seine Brust mit den Armen stürzte sich vor wie ein großer Hund, dem das befohlen worden ist. Weiter konnte es Moosbrugger auch nicht verstehn; der Raum zwischen Freundlichkeit und Genughaben ist eben schmal, und wenn es einmal so anfängt, dann wird es rasch entsetzlich eng.
    Er erinnerte sich sehr gut, daß die Leute, die sich in Fremdworten ausdrücken können und immerzu über ihn zu Gericht saßen, ihm oft vorgehalten hatten: »Aber deswegen bringt man einen anderen doch nicht gleich um?!« Moosbrugger zuckte die Achseln. Es sind schon Leute wegen ein paar Kreuzern umgebracht worden oder für nichts, weil ein anderer es sich gerade so eingebildet hat. Aber er hielt auf sich, er war nicht so einer. Der Vorwurf hatte ihm mit der Zeit Eindruck gemacht; er würde gerne gewußt haben, warum ihm von Zeit zu Zeit so eng wurde oder wie man das nennen soll, so daß er sich mit Gewalt Platz schaffen mußte, damit ihm das Blut wieder aus dem Kopf rinnen konnte. Er dachte nach. Aber war es nicht mit dem Nachdenken selbst gerade so? Wenn eine gute Zeit dafür begann, hätte er vor Vergnügen nur lächeln mögen. Da juckten nicht mehr die Gedanken unter dem Schädel, sondern plötzlich war nur noch ein einziger Gedanke da. Der Unterschied war so groß wie zwischen dem Watscheln eines kleinen Kindes und dem Tanz eines schönen Weibsbilds. Einfach wie behext. Eine Ziehharmonika wird gespielt, ein Licht steht auf dem Tisch, Schmetterlinge kommen aus der Sommernacht geflogen: so fielen jetzt alle Einfälle in das Licht des einen, oder Moosbrugger packte sie, wenn sie heran kamen, mit seinen großen Fingern und zerdrückte sie, und einen Augenblick lang waren sie dazwischen abenteuerlich wie kleine Drachen anzuschaun. Ein Tropfen von Moosbruggers Blut war in die Welt gefallen. Man konnte das nicht sehen, weil es finster war, aber er fühlte, was im Unsichtbaren vor sich ging. Wirres richtete sich dort draußen gleich. Krauses wurde glatt. Ein lautloser Tanz löste das unerträgliche Surren ab, mit dem ihn die Welt sonst oft quälte. Alles, was geschah, war jetzt schön; so wie ein häßliches Mädel schön wird, wenn es nicht mehr allein dasteht, sondern von anderen an der Hand gefaßt wird, von einem Reigen mitgedreht wird und das Gesicht eine Treppe hinaufgerichtet hat, von der schon andere herunterblicken. Das war sonderbar, und wenn Moosbrugger die Augen öffnete und sich die Leute ansah, die in einem solchen Augenblick, wo ihm alles tanzend gehorchte, gerade in seiner Nähe waren, so kamen auch sie ihm schön vor. Dann waren sie nicht gegen ihn verschworen, bildeten keine Mauer, und es zeigte sich, daß es nur die Anstrengung war, ihn übertrumpfen zu wollen, was das Gesicht von Menschen und Dingen wie eine Last verzerrte. Und dann tanzte Moosbrugger vor ihnen. Tanzte würdig unsichtbar, er, der im Leben mit niemand tanzte, von einer Musik bewegt, die immer mehr zu Einkehr und Schlaf wurde, zum Schoß der Gottesmutter und schließlich zur Ruhe Gottes selbst, zu einem wunderbar unglaubwürdigen und tödlich gelösten Zustand; tanzte tagelang, ohne daß es jemand sah, bis alles außen, aus ihm heraus war, steif und fein wie ein Spinngewebe, das der Frost unbrauchbar gemacht hat, an den Dingen hing.
    Wenn man das nicht mitgemacht hat, wie will man dann über das andere urteilen?! Nach den leichten Tagen und Wochen, wo Moosbrugger fast aus seiner Haut schlüpfen konnte, kamen immer wieder die langen Zeiten der Einkerkerung. Die Staatskerker waren nichts dagegen. Wenn er dann denken wollte, zog sich alles bitter leer in ihm zusammen. Die Arbeiterheime und Volksbildungsvereine, wo man ihm sagen wollte, wie er denken solle, haßte er; der sich noch erinnerte, wie die Gedanken große Stelzschritte in ihm machen konnten!

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