Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
hinzusetzen, so führte die Feder geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit seine Gedanken von der Seele zu den Problemen des Geistes, der Tugenden, der Wirtschaft und der Politik, die, aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung erschienen. Dieser Ausdehnungsdrang hatte Berauschendes, dafür war er aber an jene Spaltung des Bewußtseins gebunden, die bei vielen die Voraussetzung der schriftlichen Schöpfung ist, indem der Geist alles ausschaltet und vergißt, was ihm nicht ins Konzept paßt; im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehungen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg.
Wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen, sondern daß im Tempo der Gegenwart die Möglichkeit politischer Einsicht, die Fähigkeit, einen Zeitungsartikel zu schreiben, die Kraft, an neue Richtungen in Kunst und Literatur zu glauben, und unzähliges andere ganz und gar auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten. Es bedeutete auf diese Weise noch einen Vorzug, daß Arnheim ganz ehrlich niemals von dem überzeugt war, was er sagte. Als er sich auf der Höhe der Mannesjahre befand, hatte er sich zu allem und jedem, was es gab, geäußert, besaß ausgebreitete Überzeugungen und sah keine Grenze, an der er hätte aufhören müssen, auch in Zukunft neue, harmonisch aus den alten entwickelte Überzeugungen zu gewinnen, wenn er in der gleichen Weise weiter fortfuhr. Einem so wirksam denkenden Mann, der in anderen Bewußtseinszuständen Rentabilitätsberechnungen und Bilanzen durchsah, konnte es nicht entgehen, daß das ein Tun ohne Ränder und Lauf war, wenn es sich auch schier unerschöpflich ausbreitete; es fand seine einzige Umgrenzung in der Einheit seiner Person, und obgleich Arnheim viel Selbstgefühl vertrug, war das doch für seinen Verstand kein befriedigender Zustand. Er schob wohl die Ursache auf den irrationalen Rest, den das Leben dem unterrichteten Betrachter allerorten zeigt; er suchte sich auch achselzuckend damit zu beruhigen, daß in der gegenwärtigen Zeit alles ins Uferlose gehe, und da niemand sich ganz über die Schwächen seines Jahrhunderts hinausheben kann, erspähte er darin sogar eine wertvolle Möglichkeit, die allen großen Männern eigene Tugend der Bescheidenheit zu üben, indem er neidlos Erscheinungen wie einen Homer oder Buddha, weil sie in günstigeren Zeitaltern gelebt hatten, über sich setzte: aber mit der Zeit, wo sein literarischer Erfolg auf die Höhe kam, ohne daß sich in seinem Kronprinzenleben Entscheidendes geändert hatte, wuchs jener irrationale Rest, wuchsen der Mangel greifbarer Ergebnisse und das Mißbehagen, sein Ziel verfehlt und seinen ersten Willen vergessen zu haben, drückend an. Er überblickte sein Werk, und wenn er auch mit ihm zufrieden sein durfte, so glaubte er sich nun doch manchmal durch alle diese Gedanken bloß einem sehnsüchtig nachwirkenden Ursprung wie durch eine Mauer von Brillanten entrückt zu sehen, die täglich dicker wurde.
Es war ihm von solcher Art gerade in der letzten Zeit etwas Unangenehmes widerfahren, das ihn tief berührt hatte. Er hatte die Muße, die er sich jetzt öfter als sonst gönnte, dazu benützt, seinem Sekretär einen Aufsatz über die Übereinstimmung von Staatsbauten und Staatsauffassung in die Maschine zu diktieren, und hatte einen Satz »Wir sehen das Schweigen der Mauern, wenn wir diesen Bau betrachten« nach dem Worte Schweigen unterbrochen, um für einen Augenblick das Bild der römischen Cancelleria zu genießen, das soeben ungerufen vor seinem inneren Gesicht aufgestiegen war; aber als er wieder ins Manuskript blickte, bemerkte er, daß der Sekretär, gewohnheitsmäßig voraneilend, schon niedergeschrieben hatte: »Wir sehen das
Weitere Kostenlose Bücher