Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Parallelaktion einströmen zu lassen, und Arnheims Verbindungen waren ihr dabei zunutze gewesen. Er schüttelte bloß den Kopf‚ wenn er sich an die Gespräche erinnerte, die er hatte anhören müssen; reichlich verrückt fand er sie, aber »man muß der Jugend nachgeben,« sagte er zu sich »man wird unmöglich, wenn man sie einfach ablehnt.« Er fühlte sich also, wenn man so sagen darf, ernsthaft belustigt davon, denn es war ein bißchen viel auf einmal gewesen.
Was sollte nur gleich der Teufel holen? Das Erlebnis. Jenes persönliche Erlebnis meinten sie, von dessen Erdwärme und Wirklichkeitsnähe fünfzehn Jahre zuvor der Impressionismus wie von einer Wunderpflanze geschwärmt hatte. Weichlich und kopflos nannten sie jetzt den Impressionismus. Sie verlangten Beherrschung der Sinnlichkeit und geistige Synthese!
Und Synthese, das war wohl im ganzen der Gegensatz zu Skepsis, Psychologie, Untersuchen und Zerlegen, den literarischen Neigungen der Väterzeit?
Soweit man verstand, meinten sie es nicht sehr philosophisch; eher war es das Bedürfnis junger Knochen und Muskeln nach ungehinderter Bewegung, was sie unter Synthese verstanden, ein Springen und Tanzen, bei dem m an sich jede Störung durch Kritik verbietet. Wenn es ihnen paßte, standen sie nicht an, auch die Synthese zum Teufel zu wünschen, gleich mitsamt der Analyse und dem gesamten Denken. Dann behaupteten sie, daß der Geist vom Saft des Erlebens emporgetrieben werden müsse. Gewöhnlich waren es natürlich Mitglieder einer anderen Gruppe, die das behaupteten; aber manchmal waren es auch im Eifer die gleichen.
Was sie für famose Worte hatten! Das intellektuelle Temperament forderten sie. Den rapiden Denkstil, der der Welt an die Brust springt. Das zugespitzte Hirn des kosmischen Menschen. Was hatte er denn sonst noch gehört?
Die Neugestaltung des Menschen auf Grund eines amerikanisierten Weltarbeitsplans, durch das Medium der mechanisierten Kraft.
Den Lyrismus, verbunden mit dem eindringlichsten Dramatismus des Lebens.
Den Technismus; einen Geist, der des Zeitalters der Maschine würdig ist.
Blériot – hatte einer ausgerufen – schwebe soeben über dem Ärmelkanal mit fünfzig Kilometern Stundengeschwindigkeit! Dieses Fünfzig-Kilometer-Gedicht müßte man schreiben und die ganze andere, mulmige Literatur auf den Mist schicken!
Den Akzelerismus forderten sie, das ist die maximale Steigerung der Erlebensgeschwindigkeit auf Grund sportlicher Biomechanik und zirkusspringerischer Präzision!
Die photogenische Erneuerung durch den Film.
Dann hatte einer gesagt, der Mensch sei ein geheimnisvoller Innenraum, weswegen man ihm durch Kegel, Kugel, Zylinder und Kubus Beziehung zum Kosmos geben müsse. Aber auch das Gegenteil, die dieser Meinung zugrundeliegende individualistische Kunstauffassung gehe zu Ende, wurde behauptet; man müsse dem kommenden Menschen durch Volksbauten und Siedlungen neues Wohngefühl geben. Und während sich so eine individualistische und eine soziale Partei gebildet hatte, warf eine dritte ein, nur religiöse Künstler seien im wahren Sinn soziale. Darauf forderte eine Gruppe neuer Architekten die Führung für sich, denn das Ziel der Architektur sei eben Religion; außerdem mit der Nebenwirkung der Vaterlandsliebe und Bodenständigkeit. Die religiöse Gruppe, verstärkt durch die kubische, wandte ein, die Kunst sei keine abhängige, sondern eine zentrale Angelegenheit, Erfüllung kosmischer Gesetze; im weiteren Verlauf wurde aber die religiöse Gruppe von der kubischen wieder verlassen, die sich nun mit den Architekten zu der Behauptung verband, Beziehung zum Kosmos gebe man eben doch am besten durch Raumformen, die das Individuelle gültig und typisch machen. Der Satz fiel, man müsse sich in die Seele des Menschen hineinschaun und sie dann dreidimensional bannen. Dann stellte jemand streitbar und wirkungsvoll die Frage, was man denn nun eigentlich glaube: ob zehntausend hungernde Menschen wichtiger seien oder ein Kunstwerk?! In der Tat, da sie fast alle in irgendeiner Art Künstler waren, vertraten sie die Meinung, daß die seelische Genesung der Menschheit nur in der Kunst zu holen sei, und hatten sich bloß über die Natur dieser Genesung und die Ansprüche, die man ihretwillen an die Parallelaktion stellen solle, nicht zu einigen vermocht. Nun aber kam die ursprüngliche soziale Gruppe wieder in Führung und entfaltete neue Stimmen. Aus der Frage, ob ein Kunstwerk oder die Not zehntausender Menschen wichtiger sei,
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