Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Traum vergleichen könnte, wo man gleichzeitig draußen bei den wunderlichsten Geschehnissen ist und still innen in der Mitte liegt, mit einem verdünnten Ich, durch dessen Vakuum alle Gefühle wie blaue Glühröhren strahlen. Es denkt das Leben um den Menschen herum und stiftet tanzend für ihn die Verbindungen, die er mühsam und lange nicht so kaleidoskopartig zusammenstoppelt, wenn er sich dazu der Vernunft bedient. Also sann Arnheim als Kaufmann und zugleich bis in die zwanzig Spitzen seiner Finger und Zehen erregt über den freien geistig-körperlichen Verkehr einer bevorstehenden Zeit, und es erschien ihm nicht ausgeschlossen, daß etwas Kollektives, Panlogisches im Entstehen sei und daß man sich, den veralteten Individualismus verlassend, mit der ganzen Überlegenheit und Erfindungsgabe der weißen Rasse auf dem Rückweg zu einer Reform des Paradieses befinde, um in die ländliche Zurückgebliebenheit des Gartens Eden ein abwechslungsreiches modernes Programm zu bringen.
Nur eines wirkte störend. Denn so wie man im Traum die Fähigkeit hat, daß man in ein Geschehen ein unerklärliches, die ganze Person durchschneidendes Gefühl hineinlegt, so hat man die gleiche Fähigkeit auch im Wachen, aber nur, wenn man fünfzehn oder sechzehn Jahre alt ist und auf die Schule geht. Auch dann sind bekanntlich große Wallungen im Menschen, antreibendes Drängen und ungestaltes Erleben; die Gefühle sind sehr bewegt, aber noch nicht sehr gesondert, Liebe und Zorn, Menschenglück und -hohn, kurz alle moralischen Abstrakta sind zuckende Geschehnisse, die bald die ganze Welt bedecken, bald in nichts zusammenschrumpfen; Traurigkeit, Zärtlichkeit, Größe und Edelmut wölben leere hohe Himmel. Und was geschieht? Von außen, aus der gegliederten Welt kommt eine fertige Form – ein Wort, ein Vers, ein dämonisches Lachen, kommen Napoleon, Cäsar, Christus oder vielleicht auch nur die Trän' am Elterngrab – und es entsteht in blitzartiger Verbindung das Werk. Dieses Primanerwerk ist, was man allzuleicht übersieht, Zug um Zug ein vollendeter Ausdruck des Gefühls, die genaueste Deckung von Absicht und Erfüllung, und das vollkommene Hineingehn der Erlebnisse eines jungen Mannes in das Leben des großen Napoleon. Es scheint jedoch die Verbindung vom Großen zum Kleinen irgendwie nicht umkehrbar zu sein. Man erlebt es sowohl in Träumen wie in der Jugend, wenn man eine große Rede gehalten hat und beim Aufwachen unseligerweise noch die letzten Worte erhascht, daß diese eigentlich gar nicht so ungewöhnlich schön sind, wie es einem geschienen hat. Man kommt sich dann nicht ganz so schwerlos schillernd vor wie der tanzende Hahn, sondern hat bloß mit sehr viel Gefühl den Mond angeheult wie der mehrfach zur Würdigung gelangte Foxl des Herrn Generals.
Also konnte da doch nicht alles stimmen; – überlegte Arnheim, sich ermunternd – aber freilich muß man allen Ernstes mit seiner Zeit gehn, fügte er wachsam hinzu; denn was lag ihm schließlich näher, als diesen bewährten Fabrikationsgrundsatz auch auf die Herstellung des Lebens anzuwenden?
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Spekulation in Geist à la baisse und à la hausse
DIE ZUSAMMENKÜNFTE NAHMEN bei Tuzzis jetzt ihren regelmäßigen und gedrängten Fortgang.
Sektionschef Tuzzi sprach auf dem »Konzil« den »Vetter« an. »Wissen Sie, daß es das alles schon einmal gegeben hat?«
Er wies mit den Augen auf den brodelnden Menscheninhalt seiner ihm entfremdeten Wohnung. »In den Anfängen des Christentums; in den Jahrhunderten um Christi Geburt. In dem christlich-levantinisch-hellenistisch-jüdischen Glutkessel hatten sich damals unzählige Sekten gebildet .« Und er begann aufzuzählen: »Die Adamiten, Kainiten, Ebioniten, Kollyridianer, Archontiker, Eukratiten, Ophiten…«; mit einer merkwürdigen, hastigen Langsamkeit, wie sie entsteht, wenn jemand eilende Geläufigkeit seines Tuns mäßigend verbergen will, führte er eine lange Liste früh- und vorchristlicher religiöser Bünde an; es erweckte den Eindruck, er wünsche den Vetter seiner Frau behutsam verstehen zu lassen, daß er mehr von den Vorgängen in seinem Hause wisse, als er aus besonderen Gründen zu zeigen pflege.
Er fuhr dann fort, unter Erläuterung der genannten Namen zu erzählen, daß sich die eine Sekte gegen die Ehe stellte, weil sie Keuschheit forderte, indes die andere Keuschheit forderte, aber komischerweise dieses Ziel durch Riten der Ausschweifung zu erreichen wünschte. Die Angehörigen der einen verstümmelten
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